Samanta war ein aufgewecktes Mädchen von zehn Jahren. Sie hatte schulterlanges blondes Haar und ein liebliches Gesicht. Sie liebte es in den Wäldern und Bergen herumzulaufen und den Geschöpfen, die dort lebten, bei ihrem täglichen Treiben zuzusehen. Im Laufe der Zeit hatte sie ein Gespür dafür entwickelt, was die Tiere empfanden. Manchmal glaubte sie, sogar deren Unterhaltung zu verstehen.
Sie lebte mit ihrer Mutter östlich des Dorfes Gromna in einer kleinen alten Hütte. Ihr Vater war vor ihrer Geburt gestorben, zumindest ließ man sie das glauben. Ihre Mutter war eine Kräuterkundlerin und im Dorf nicht gerne gesehen, da die Dorfbewohner dachten, sie sei eine Hexe. Zu diesem Glauben kam es, als sie eines Tages jemanden heilte, den alle schon für tot geglaubt hatten. Obwohl sie nicht gerne gesehen war, kamen immer wieder Kranke und Gebrechliche zu ihr, um sie um Heilung zu bitten. Die Einnahmen reichten nicht für alles, aber durch den Anbau von Gemüse und Anfertigung von Amuletten konnten sie überleben.
Wie fast jeden Tag war Samanta nach Erledigung ihrer Aufgaben in den Wald gegangen. Sie beobachtete gerade ein paar Waschbären, als sie ein seltsames Geräusch aufschrecken ließ. Neugierig blickte sie umher. Wieder hörte sie das Geräusch, jedoch diesmal wesentlich deutlicher. Nun konnte sie die Richtung, aus der es kam, genauer ausmachen. Sie stand auf und ging dem Geräusch nach. Es führte sie zu einer nicht weit entfernten Höhle. Dort angekommen lauschte sie hinein. Das Geräusch erklang wieder. Es hörte sich an, als ob etwas gegen die Wand schlug. Neugierig ging sie in die Höhle.
»Hallo! Wer ist da?«, rief sie, aber es kam nur das Echo ihrer Stimme zurück. Langsam ging sie tiefer hinein. Je weiter sie ging, desto dunkler wurde es. Nach etwa fünfzig Schritten konnte sie kaum noch etwas sehen und blieb stehen. Es erklang wieder. Diesmal war es so deutlich zu hören, dass es eigentlich direkt vor ihr hätte erzeugt werden müssen. Das Klopfen kam in immer kürzeren Abständen. Samanta sah sich um, konnte aber nicht entdecken, wer das Klopfen verursachen könnte. Als sie einen Schritt weiter ging, stieß sie mit ihrem Fuß an etwas. Sie bückte sich und tastete danach. Vor ihr lag ein Ei, so groß wie ein Kleinkind. Behutsam strich Samanta mit ihrer Hand darüber, als plötzlich das Klopfen wieder zu hören war. Samanta spürte, wie etwas von innen gegen die Schale schlug, und wich erschrocken zurück. Nach kurzer Zeit fasste sie sich wieder und näherte sich erneut dem Ei.
»Ein so großes Ei habe ich noch nie gesehen. Welches Tier mag da herauskommen?«
Da sie das Ei in dem Halbdunkel nicht richtig erkennen konnte, nahm sie es behutsam auf und trug es zum Höhleneingang. Dort legte sie es vorsichtig in eine kleine Senke, so konnte das Ei nicht wegrollen. Wieder klopfte etwas von innen gegen die Schale. Beim letzten Klopfzeichen bildete sich ein kleiner Riss. Das Klopfen kam in immer kürzeren Abständen, wobei sich der Riss weiter vergrößerte. Nach etwa zehn Minuten fiel die Schale auseinander und ein Samanta unbekanntes Geschöpf kam zum Vorschein. Es sah aus wie eine Eidechse mit Schwingen und schillerte in allen Farben des Regenbogens. Vorsichtig streckte Samanta ihm ihre Hand entgegen. Das Wesen schnupperte zuerst zaghaft daran, dann schmiegte es sich in die offene Handfläche. Als es den ganzen Kopf in ihre Hand gelegt hatte, hörte Samanta plötzlich eine Stimme.
»Danke.«
Samanta wich zurück und sah sich um, es war jedoch niemand zu sehen. Sie sah sich das Geschöpf noch einmal genauer an und bemerkte, dass es sie ebenfalls musterte und dabei den Kopf zur Seite neigte. Langsam näherte sie sich wieder dem Geschöpf und berührte es mit ihrer Hand.
»Danke für den schönen Namen.«
Samanta sah das Tier verwundert an.
»Warst du das?«, fragte sie.
»Ja.«
»Welchen Namen? Ich habe dir keinen gegeben.«
»Du hast mir meinen Namen mit deiner ersten Berührung gegeben.«
»Ich wüsste nicht welchen.«
»Du hast mir den Namen Maya gegeben.«
Samanta wunderte sich, als sie den Namen ihrer besten Freundin hörte, die vor einem Jahr verstorben war. Nachdenklich sah sie sich das seltsame Geschöpf an.
»Was bist du? So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen.«
»Ich bin ein Drache und von nun an gehören wir zusammen.«
Samanta war so verwirrt, dass sie die Worte von Maya nicht verstand. Sie setzte sich neben sie auf den Boden und streckte die Arme aus. Sofort sprang Maya ihr in die Arme und schmiegte sich an sie. Samanta begriff immer noch nicht, was hier geschah.
»Drachen gibt es doch nur in Sagen und Märchen, nicht in der Realität.«
Während sie Maya streichelte, versank sie in ihren Gedanken.
»Mich gibt es, so wie viele andere meiner Art.«
Die Worte des kleinen Drachen verwirrten Samanta noch mehr.
»Mit der Zeit wirst du es verstehen.«
Samanta konnte sich nur langsam entspannen. Nach einiger Zeit hatte sie sich so weit gefasst, dass sie Maya zum ersten Mal richtig wahrnahm.
»Ich bin Samanta.«
»Das weiß ich. Ich kann deine Gedanken lesen, so wie du meine.«
Samanta sah Maya verblüfft an. »Ich kann deine Gedanken nicht lesen.«
»Du kannst es. Du tust es doch schon die ganze Zeit.«
»Aber ...«, Samanta verstummte mit offenem Mund.
»Oder was meinst du, wie wir uns unterhalten?«
Samanta konnte nicht glauben, was ihr Maya da gerade eröffnet hatte. Aber es musste so sein, da sich Mayas Maul während des Gesprächs nicht bewegt hatte.
Beide unterhielten sich bis zum Abend.
»Ich muss jetzt wieder nach Hause. Wir sehen uns morgen«, verabschiedete sich Samanta.
»Ich muss etwas essen. Ich werde nachkommen.«
»Das geht nicht. Du … du kannst nicht mit zu mir. Meine Mutter ...«
»Sie muss es ja nicht erfahren.«
Zusammen verließen sie die Höhle. Samanta schlug die Richtung nach Hause ein, der kleine Drache folgte ihr. Nach wenigen Minuten ging Maya in eine andere Richtung. Samanta atmete auf, sie dachte, Maya würde sie nun doch nicht nach Hause begleiten.
Nach etwa einer Stunde war Samanta bei ihrer Hütte angekommen.
»Warst du schon wieder den ganzen Nachmittag im Wald?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Ja. Ich hab ...«, plötzlich verstummte Samanta.
»Was hast du?«
»Ich habe … eine Eidechse beobachtet. Sie hat sich gesonnt«, sagte Samanta schnell.
»Hilf mir bitte beim Abendbrot.«
Samanta half ihrer Mutter, wie sie es gesagt hatte. Nach dem Abendbrot wuschen sie zusammen das Geschirr. Danach wollte Samanta zu Bett gehen. Als sie die Tür zu ihrer Kammer öffnete und eintreten wollte, erschrak sie: Auf ihrem Bett lag Maya. Samanta ging schnell in ihre Kammer und schloss die Tür, damit ihre Mutter nichts merkte.
»Wie kommst du hier herein?«, fragte Samanta.
»Durch das Fenster, es war offen.«
Samanta sah zum Fenster und sah, dass es geschlossen war. »Und dann hast du es geschlossen?«, dabei grinste sie.
Maya sah Samanta nicht an, sie hatte die Augen geschlossen und stellte sich schlafend. Samanta formte in Gedanken einen markerschütternden Schrei. Im gleichen Augenblick sprang Maya vom Bett und flog in Windeseile auf sie zu. Kurz bevor sie Samanta erreichte, drehte sie ab und flog in einem Bogen um sie herum.
»Das war aber nicht nett«, sagte Maya im Vorbeiflug, landete wieder auf dem Bett, legte sich hin und rollte sich zusammen.
»Willst du etwa die ganze Nacht in meinem Bett bleiben?«
»Wo sollte ich sonst schlafen, wenn nicht hier?«
Samanta überlegte einen Augenblick.
»Ich könnte dir dort in der Truhe einen Schlafplatz einrichten.«
Maya hob langsam den Kopf und sah in Richtung der Truhe, während Samanta diese öffnete und ein paar Tücher darin ausbreitete. Neugierig geworden erhob Maya sich, sprang vom Bett und lief zu der Truhe. Dort angekommen schaute sie hinein.
»Das sieht bequem aus. Ich werde es versuchen.«
Mit einem Sprung war Maya in der Truhe. Sie drehte sich im Kreis und besah sich dabei die ausgelegten Tücher.
»Ist sehr weich«, bemerkte sie und legte sich darauf.
Kurze Zeit später schloss sie die Augen und schlief ein. Samanta sah zufrieden zu Maya und wünschte ihr angenehme Träume. Samanta fing an zu gähnen und begab sich zu Bett. Sie lag noch lange wach und dachte über den Tag nach. Erst in den späten Abendstunden schlief sie ein.