Samanta lief mit Maya durch die Wälder und Berge der Umgebung. Gemeinsam erkundeten sie die Gegend, wobei Maya Samanta immer wieder Fragen über die einzelnen Tiere stellte. Manchmal jagte Maya kleineren Tieren hinterher, was sie damit bezweckte, konnte Samanta nicht erkennen. Erst als sie eines der Tiere in ihrer Nähe fing, wurde Samanta bewusst, dass Maya sie aß. Angewidert verzog sie ihr Gesicht, als Maya von einem ihrer Beutegänge zurückkam. Als Maya dies sah, meinte sie nur, dass sie schließlich essen müsse, um nicht zu verhungern. Sie schien jetzt aber satt zu sein, da sie bei Samanta blieb und nicht mehr den Tieren hinterherjagte. Nach etwa drei Stunden kamen sie an eine Lichtung, auf der ein großer Baum stand, den Samanta noch nie gesehen hatte. Staunend gingen sie um den Baum. Er war so groß, dass Samanta den Stamm nicht umfassen konnte. Sie umrundete ihn und zählte dabei mehr als vierzig Schritte. Er hatte eine Krone, die zehnmal größer war, als die Hütte, in der sie wohnte. Während Samanta den Baum immer wieder umrundete, flog Maya zu der Krone und besah sich diese neugierig. Das Blätterdach war so dicht, dass sie nicht hineinfliegen konnte, was sie verärgerte, denn im Inneren schien etwas zu sein. Da sah sie einen Ast, der aus der Krone hervorstand. Sie flog darauf zu, konnte jedoch nicht landen, da er nicht genügend Platz bot. Verstimmt über die misslungenen Landeversuche, flog sie zu Samanta.
»Da ist was drin, aber ich kann dort nicht landen.«
»Von hier unten kann ich nichts erkennen und zum Hinaufklettern ist der Stamm zu glatt. Da finde ich keinen Halt.«
Beide traten von dem Baum zurück, um aus einiger Entfernung die Krone in Augenschein zu nehmen. Plötzlich fing der Baum an zu leuchten. Das Leuchten schien vom Inneren des Baumes zu kommen, zuerst ganz schwach, dann immer stärker. Samanta musste die Augen vor dem nun grellen Licht schützen. Maya hatte ihre Augen bereits mit ihrem Schwanz verdeckt. Bevor Samanta ihre Augen ganz schloss, wurde das Licht wieder leiser und war nach kurzer Zeit vollends verschwunden. Samanta sah zu dem Baum, vor dem jetzt eine Gestalt stand. Als sie näher herangehen wollte, packte Maya sie am Hosenbein und hielt sie davon ab.
»Was soll das?«
»Was, wenn der nichts Gutes im Schilde führt?«
»Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir es wahrscheinlich nie erfahren.«
Maya ließ das Hosenbein los und Samanta ging auf die Gestalt zu. Als sie nur noch fünfzehn Schritte von ihr entfernt war, erkannte sie in der Gestalt einen Jungen. Er war wohl im gleichen Alter wie sie. Maya war Samanta nur zögerlich gefolgt. Als Samanta dem Jungen direkt gegenüberstand, gab Maya einen Laut von sich, der Samanta und den Jungen erschrecken ließ. Samanta drehte sich daraufhin zu Maya. »Bist du verrückt?« Maya antwortete nicht, sie spannte ihre Schwingen und flog davon. Samanta sah ihr verwundert nach, dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu. Doch als sie sich zu ihm umgedreht hatte, war er verschwunden. Samanta sah sich um, konnte ihn aber nicht finden. Sie suchte ihn auf der gesamten Lichtung, umkreiste dabei mehrmals den Baum. Gerade als Samanta die Lichtung verlassen wollte, fing der Baum wieder an zu leuchten. Samanta wartete, in der Hoffnung, dass auch diesmal das Leuchten nach kurzer Zeit wieder nachgab und der Junge erschien. Aber etwas schien anders, das Leuchten wurde intensiver als beim letzten Mal. Samanta hatte bereits die Augen geschlossen, konnte aber trotzdem das Leuchten noch sehen. Langsam verspürte sie eine Wärme, die von dem Zentrum der Lichtung auszugehen schien. Diese verstärkte sich immer mehr. Samanta tastete sich langsam davon weg, sie wollte zurück in den Wald. Die Hitze in ihrem Rücken wurde stärker, es schien, als ob die Lichtung brennen würde und die Flammen sie verzehren wollten. Samanta stieß plötzlich gegen etwas, was sie für einen Baum hielt. Als sie darum herumgehen wollte, bemerkte sie, dass es eine Wand war. Die Hitze wurde unerträglich. Ihr Rücken schmerzte dadurch bereits so sehr, dass sie anfing, zu schreien.
»Maya! Hilf mir!«
Mit diesen Worten auf den Lippen schreckte Samanta auf und sprang aus dem Bett. Verwirrt sah sie sich um. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, dass alles nur ein Traum war. Maya lag friedlich in ihrer Truhe und schlief. Da kam Samantas Mutter in ihr Zimmer gerannt.
»Samanta, was ist los?«
»Nichts, ich hatte nur geträumt.«
Samanta beruhigte ihre Mutter. Kurz darauf verließ diese das Zimmer. Samanta sah noch einmal nach Maya und legte sich wieder hin.
»Auf dich kann man sich auch nicht verlassen.«
»Ich bin immer bei dir und beschütze dich.«
Samanta setzte sich wieder auf und sah zu Maya.
»Und warum bist du auf der Lichtung plötzlich davongeflogen?«
Maya hatte ihren Kopf gehoben und sah sie an.
»Welche Lichtung? Wir waren auf keiner Lichtung.«
»Gerade eben …« Samanta gestikulierte mit ihren Händen und sagte dann nach kurzer Pause mit trauriger Stimme: »... in meinem Traum.«
»Ich hatte Angst. Der Junge sah böse aus.«
»Dann hast du das doch alles gesehen?«
Maya antwortete nicht, sie hatte sich bereits wieder zusammengerollt. Samanta wollte gerade einen Schrei in ihren Gedanken formen, ließ es aber doch sein. Zähneknirschend vor Zorn über Mayas Verhalten legte sie sich wieder hin.
Als Samanta am nächsten Morgen nach Maya sah, staunte sie. Maya passte nicht mehr in die Truhe. Sie war nun mehr als doppelt so groß, wie am Abend.
»Maya, wach auf!«
Maya hob langsam ihren Kopf.
»Ich hatte gerade einen so schönen Traum.«
»Sieh dich einmal an. Du bist gewachsen.«
Maya sah Samanta erstaunt an, dann stand sie auf, stieg aus der Kiste und betrachtete sich selbst. Sie sah sich ihre Schwingen, die Beine und den Rumpf an. Kurz darauf meinte sie: »Ich habe Hunger«, und breitete ihre Schwingen aus.
»Nicht hier drinnen. Du bist zu groß, um durch das Fenster fliegen zu können. Warte, ich hebe dich hoch.«
Samanta ging zu Maya und versuchte sie hochzuheben, aber sie war zu schwer. So sehr sie sich auch anstrengte, sie bekam Maya nicht einen Zentimeter gehoben.
»Dann musst du eben durch das Haus nach draußen.«
Samanta ging zur Zimmertür. Vorsichtig öffnete sie diese und sah hinaus. Es schien sich niemand im angrenzenden Raum zu befinden. Sie öffnete die Tür vollständig und gab Maya ein Zeichen, ihr zu folgen. Auf Zehenspitzen schlich Samanta durch den Raum, Maya lief so leise als möglich hinter ihr. Gerade als sie die Eingangstür zur Hütte erreicht hatten, zerschellte ein Topf auf dem Boden. Samanta sah Maya vorwurfsvoll an. Diese duckte sich und sah von unten her mit geneigtem Kopf zu ihr. Samanta musste bei diesem Anblick grinsen, was Maya sofort bemerkte. Kurz bevor beide anfingen zu lachen, wandte sich Samanta wieder der Tür zu. Sie hatte die Tür noch nicht ganz geöffnet, als sie Schritte hörten. Sie riss die Tür vollständig auf und winkte Maya hastig hindurch. Ihre Mutter erschien in der Zimmertür und rieb sich die Augen.
»Schon so früh auf?«
»Ich hatte Durst und wollte zum Brunnen«, schwindelte Samanta.
»Warum trinkst du nicht das Wasser, das wir im Haus haben?«
»Der Krug ist leer.«
»Dann nimm ihn mit und fülle ihn wieder«, meinte ihre Mutter und reichte ihr den Krug.
Samanta nahm ihn und ging zum Brunnen. Dort sah sie sich um, sie hoffte, dass Maya auf sie wartete. Da sie sie nicht entdecken konnte, holte sie Wasser aus dem Brunnen, füllte den Krug und ging damit wieder in die Hütte. Ihre Mutter war bereits dabei das Frühstück zuzubereiten, als Samanta durch die Tür schritt. Schweigend ging sie zum Schrank, stellte den Krug ab und begann das Geschirr auf den Tisch zu stellen.
Beide saßen beim Frühstück, als es an der Tür klopfte. Samanta stand auf und öffnete. Vor ihr stand ein Junge, den sie schon einmal gesehen hatte. Der Junge war etwa so alt wie sie. Er hatte schulterlanges schneeweißes Haar und ein engelhaftes Gesicht. Seine Kleider bestanden aus einem so hellen Leder, wie es Samanta noch nie gesehen hatte. Es war der Junge aus ihrem Traum. Erschrocken darüber vergaß sie, ihn hereinzubitten.
»Wer ist es und was will er?«
Samanta drehte sich zu ihrer Mutter. »Es ist …«, sie wandte sich wieder dem Jungen zu. »Wer bist du und was willst du hier?«
Der Junge sagte nichts, er stand nur da und sah Samanta mit weit aufgerissenen Augen an. In der Zwischenzeit war ihre Mutter zu ihr gekommen und sah sich den Besucher an. Sie schob Samanta sacht beiseite und bat den Jungen hereinzukommen. Er folgte der Aufforderung und setzte sich auf den Stuhl, den ihm Sophie anbot. Samanta sah noch einmal verwirrt nach draußen und schloss die Tür. Enttäuscht, dass sie Maya nicht gesehen hatte, ging sie zum Tisch und setzte sich.
»Wer ist er?«, fragte sie ihre Mutter.
»Bisher hat er noch nichts gesagt.«
Samanta wollte den Jungen etwas fragen, da drehte er sich zu ihr.
»Hallo, Samanta. Wie ich sehe, erkennst du mich.«
Samanta sah ihn überrascht an.
»Samanta, ihr kennt euch?«, fragte ihre Mutter. Samanta antwortete jedoch nicht.
»Danke, dass du mich befreit hast. Ich bin übrigens Christian.«
Er reichte Samanta die Hand, doch sie starrte ihn nur entgeistert an.
»Bitte was? Was soll ich gemacht haben?«
Christian sah Samanta und Sophie abwechselnd an.
»Weißt du das nicht mehr? Auf der Lichtung?«
Samanta dachte, dass dies eigentlich nicht sein konnte. Sollte ihr Traum doch keiner gewesen sein?
»Aber ... wie ... doch ...«
Samanta stammelte Unverständliches vor sich hin. Dabei gestikulierte sie so heftig mit den Armen, dass Christian sich vorsichtshalber zur Seite neigte. Es dauerte etwas, bis sie sich wieder gefast hatte und vernünftig reden konnte.
»Wie kann das sein, es war doch nur ein Traum!?«
»Es war kein Traum, das kann dir Maya bestätigen.«
Samanta blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen.
Ihre Mutter fragte sofort nach: »Wer ist Maya? Ist das eine Freundin von dir?«
Samanta konnte darauf nicht antworten, sie war immer noch verwirrt. Christian sah von Sophie zu Samanta.
»Sie weiß nichts davon?«
Samanta fühlte sich plötzlich unwohl. Wie sollte sie ihrer Mutter den Drachen erklären? Woher wusste Christian von Maya? Samanta wurde schwindlig. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Die Stimmen von ihrer Mutter und Christian verwandelten sich von Gemurmel in ein leises Rauschen. Christian beugte sich gerade zu ihr, als plötzlich mit einem gewaltigen Getöse hunderte Holzsplitter durch den Raum flogen. Alle blickten erschrocken zu dem Loch, das zuvor noch durch eine Tür verschlossen war. Dort stand mit weit aufgerissenem Maul Maya. Sie fauchte und brüllte so laut, dass man es in den Eingeweiden spürte. Samanta wurde durch das Gebrüll aus ihrer Trance gerissen. Sie starrte zu Maya. Sophie war vor Schreck aufgesprungen und wich an die nahegelegene Wand zurück. Christian hatte Samanta am Arm gepackt, ließ sie jedoch wieder los, als Maya ihren Kopf weiter in den Raum in seine Richtung streckte.
»Maya! Was machst du hier?«
»Was hat er dir angetan!«, brüllte es in ihrem Kopf.
»Nichts! Beruhige dich!«
Samanta versuchte sie mit sanften Worten zu beruhigen, was nicht so einfach war, da ihr Christians Worte immer noch durch den Kopf gingen. Maya streckte ihren Kopf weiter in den Raum, dabei kam sie Christian immer näher. Der blieb ruhig auf seinem Stuhl sitzen und sah Maya an, die ihn daraufhin erneut anbrüllte. Kurz bevor Maya Christian erreichte, stoppte sie. Sie drehte ihren Kopf nach hinten und erkannte, dass ihr Körper nicht durch die Türöffnung passte.
»Du bist ganz schön groß geworden«, stellte Christian fest.
Verärgert schwenkte Maya ihren Kopf wieder in Christians Richtung und fauchte.
»Was hat sie nur gegen dich?«
Christian wandte sich Samanta zu, als plötzlich das Splittern von Holz zu hören war und Maya näher an Christian herankam. Der Türrahmen war zerborsten, als Maya ihre Schultern hindurchzwängte. Christian blieb wie zuvor ruhig sitzen.
»Maya, ich bin nicht dein Feind«, gab er ihr in Gedanken zu verstehen.
Maya hielt kurz inne und sah Christian mit geneigtem Kopf an. »Wie ist das möglich?«, gab sie ihm zu verstehen.
»Ich muss zuerst mit Samanta darüber sprechen. Geh nach draußen, dort wartet jemand auf dich. Er wird dir einige deiner Fragen beantworten können.«
Maya sah noch eine Zeit lang Christian an, dann schob sie sich rückwärts aus der Hütte. »Samanta, sei vorsichtig.« Sie sah noch einmal in Christians Richtung und verschwand.
Sophie sah die beiden fragend an. Ihr stand immer noch der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
»Ich ... das ... sagen ...«, stammelte Samanta und sah dabei abwechselnd zu ihrer Mutter und Christian. Sie konnte nicht die richtigen Worte finden, um das eben Geschehene zu erklären.
»Seit wann stotterst du denn?«, fragte ihre Mutter.
»Ich ... nicht ...« Samanta atmete einmal tief durch. »Ich wollte es dir gestern Abend schon sagen, aber ich konnte nicht. Das war Maya. Ich habe ihr Ei in einer Höhle gefunden, als sie gerade geschlüpft ist.«
»Und woher kennst du Christian?«
»Das war heute Nacht auf der Lichtung.«
»Du warst heute Nacht draußen?«
»Nein. Ja. Ich weiß nicht.« Samanta schaute auffordernd zu Christian.
»Ich glaube, jetzt sollte ich etwas dazu sagen«, meinte Christian.