Dreier´s Bücherwelt: Dranchenfreunde


   Christian war etwa acht Jahre alt, als er mit seinen Freunden im Wald umherstreifte. Dabei stellten sie sich vor, sie seien eine Räuberbande und machten den Wald unsicher. Christian sollte diesmal vom Lagerplatz aus die Umgebung auskundschaften. Er nahm seinen Bogen und ein paar Pfeile und begab sich auf Erkundung. Während sich die anderen Kinder am Lagerplatz Geschichten erzählten, ging Christian tiefer in den Wald. Es dauerte nicht lange, da kam er an eine Lichtung, auf der ein großer Baum stand. Christian legte sich auf den Boden und schlich an den Rand der Lichtung. Eine Zeit lang beobachtete er die Umgebung, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Er stand auf und ging auf die Lichtung, wobei er die Umgebung im Auge behielt. Mit schussbereitem Bogen bewegte er sich langsam auf den Baum zu. Ein Vogel schreckte auf und flog davon. Christian erschreckte sich so, dass er aus Versehen den Pfeil losließ. Der Pfeil bohrte sich in den mächtigen Stamm des Baumes und blieb stecken. Als Christian sich von seinem Schrecken erholt hatte, ging er zu dem Pfeil. Er betrachtete ihn und stellte fest, dass die Spitze gänzlich im Stamm verschwunden war. Dort, wo sie eingedrungen war, bildete sich ein kleines Rinnsal mit roter Flüssigkeit. Christian beobachtete, wie sich der rote Streifen langsam dem Boden näherte. Plötzlich hörte er ein leises Knacken, das aus der Krone des Baumes zu kommen schien. Er löste seinen Blick von dem Rinnsal und sah nach oben. Die Zweige über ihm bewegten sich, als ob dort eben noch jemand gewesen wäre. Christian ging einige Schritte zurück, um sich die Krone genauer anzusehen. Dabei achtete er nicht darauf, wohin er trat, stolperte über etwas und fiel rücklings hin. Sein Kopf stieß so heftig an einen Stein, dass er das Bewusstsein verlor.

    

   Wie lange er bewusstlos war, wusste er nicht. Da es bereits dämmerte, waren es wohl mehrere Stunden gewesen. Langsam öffnete er die Augen. Als er sich erheben wollte, hielt ihn etwas zurück. Die Augen weit geöffnet versuchte er etwas zu erkennen. Er sah die Äste und Blätter über ihm und den Stamm des Baumes neben sich. Aber was hinderte ihn daran aufzustehen? Er hob, so weit es ging, den Kopf und sah an seinem Körper entlang. Dabei erschrak er so heftig, dass er aufschrie und versuchte, um sich zu schlagen. Um seine Beine, den Oberkörper und die Armen waren dicke Äste geschlungen. Diese hielten ihn so fest, dass er sich kaum bewegen konnte. Plötzlich dröhnte eine schrille und laute Stimme in seinem Kopf.

   »Hör auf damit. Du kannst mir nicht entkommen.«

   Christian verstummte augenblicklich und hielt in seiner Bewegung inne. Langsam hob er den Kopf und sah sich um. Dabei entdeckte er, nicht weit entfernt, eine Gestalt.

   »Wer bist du und warum hältst du mich fest?«

   »Du hast auf mich geschossen und mich verwundet. Die Strafe hierfür ist dein Leben.«

   Christian begriff zuerst nicht, was die Gestalt damit meinte. Nur langsam drangen die Worte in sein Unterbewusstsein.

   »Aber es war ein Versehen. Ich wollte dich nicht verletzten«, sagte Christian verängstigt.

   »Es ist geschehen und die Strafe hierfür ist dein Leben.«

   Kurz darauf verschwand die Gestalt und Christian war wieder allein.

   War dies das Ende für ihn?

   Er versuchte zu begreifen, was er soeben gehört hatte. Erneut versuchte er sich zu befreien, da gaben die Zweige plötzlich nach. Einer nach dem anderen entfernte sich von seinem Körper, bis er frei war. Christian stand auf und sah sich um. Immer wieder stieß er an Hindernisse, die er nicht sehen konnte. Dann begriff er, dass er zwar nicht mehr gefesselt, aber immer noch gefangen war. Er setzte sich auf einen der Zweige und dachte nach. Plötzlich hörte er Stimmen, die immer lauter wurden. Christian stand auf und ging zum Rand der Baumkrone. Am Rand der Lichtung sah er eine Gruppe Kinder. Es waren seine Freunde, die nach ihm suchten. Christian fing an, nach ihnen zu rufen, aber sie schienen es nicht zu hören. Langsam kamen sie näher an den Baum heran, wobei sie seinen Namen riefen. Christian versuchte noch lauter zu rufen, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber was er auch anstellte, seine Freunde bemerkten ihn nicht. Sie gingen mehrmals um den Baum, sahen nach oben und riefen nach ihm. Da sie ihn nicht fanden, verließen sie die Lichtung wieder. Christian konnte ihnen nur nachsehen. Er war darüber so traurig, dass er anfing zu weinen.

   »Deine Freunde können dir nicht helfen, da sie dich nicht sehen und hören können«, vernahm er in seinen Gedanken.

   Aufgeschreckt blickte er auf, aber diesmal sah er niemanden.

   »Warum?«, fragte Christian mit verweinter Stimme.

   »Du hast mich verletzt. Von nun an wirst du mir dienen, bis zu deinem Lebensende. Solltest du jedoch einen Drachen sehen, dann bist du frei.«

   Christian wollte gerade etwas dazu sagen, als neben ihm ein kleiner Tisch erschien. Darauf befanden sich Früchte, die er noch nie gesehen hatte. Sie leuchteten in allen Farben des Regenbogens und verströmten einen angenehmen Duft. Christian nahm sich eine der Früchte und biss hinein. Sofort spuckte er den Bissen wieder aus, sein Mund brannte wie Feuer. Er sah sich nach etwas zu trinken um, konnte jedoch nichts finden. Da entdeckte er eine Frucht, die er doch kannte, es war eine Melone. Hastig griff er danach und schlug darauf, um sie zu zerteilen. Die Melone zersprang. Christian nahm eines der Stücke und biss hinein, sofort verringerte sich das Brennen in seinem Mund. Als er mit dem Essen fertig war, überkam ihn eine Müdigkeit, die er so nicht kannte. Kurz darauf schlief er tief und fest.

    

   Im Laufe der Zeit erfuhr er, dass der Baum ein uraltes Zauberwesen war. Im Grunde war dieses Wesen liebevoll und zuvorkommend, allerdings auch sehr einsam. Christians Aufgabe bestand nun darin, das Wesen zu unterhalten. Als Gegenleistung bekam er alles, was er sich wünschte, nur nicht seine Freiheit.

    

   Es dauerte einige Zeit, bis sich wieder jemand auf der Lichtung blicken ließ. Es war ein kleines Mädchen mit einem seltsamen Wesen an ihrer Seite. So etwas hatte Christian noch nicht gesehen. Es sah aus wie eine Eidechse, war jedoch wesentlich größer. Da erinnerte er sich an die Worte des Baumgeistes.

   »Du musst mich freilassen! Dort ist ein Drache!«, rief Christian voller Freude und zeigte zum Rand der Lichtung.

   »Du hast mir die Jahre über treu gedient. Aus diesem Grund werde ich dir nur ein Jahr deines Lebens nehmen.«

   Kurz darauf wurde es so hell, dass Christian die Augen schloss, um nicht geblendet zu werden. Durch die geschlossenen Augenlider erkannte er immer noch das grelle Licht. Als es dunkler wurde und er die Augen öffnete, stand er auf der Erde und vor ihm das Mädchen. Es kam näher heran, drehte sich dann zu seinem Drachen um und sagte etwas, was Christian nicht verstand. Er wollte gerade etwas sagen, da verschwand alles vor seinen Augen: Es wurde dunkel. Die Dunkelheit dauerte eine Ewigkeit, so kam es ihm vor. In der Ferne erkannte er auf einmal ein leises Licht, das immer lauter wurde. Dann ging alles sehr schnell. Christian befand sich wieder auf dem Rastplatz, wo er mit seinen Freunden gespielt hatte. Er setzte sich an die Stelle, wo das Lagerfeuer war, und stocherte in den verkohlten Holzresten.

   »Wie lange ich wohl weg war? So weit ich mich erinnern kann, waren es nur ein paar Tage. Ich warte einfach hier, sie werden sicherlich bald wiederkommen.«

   Er suchte etwas Brennholz zusammen, legte es auf die Feuerstelle und entzündete es mit dem Feuerstein, den er in seiner Hosentasche gefunden hatte. Langsam kam die Dämmerung. Christian bekam Zweifel, dass seine Freunde noch kommen würden. Um in das Dorf, in dem er wohnte, zurückzukehren, war es bereits zu spät. Er sammelte für die Nacht noch etwas Brennholz und bereitete sich sein Nachtlager. Als die Nacht hereinbrach, bekam er Hunger. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Neugierig sah er in den Beutel, den ihm der Baumgeist mitgegeben hatte. Es befanden sich Brot, Trockenfleisch und Früchte darin. Sein Abendessen war gerettet. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, legte er sich hin. Während dessen überlegte er, was der Baumgeist zum Abschied gesagt hatte.

   »Die Jahre treu gedient. Nur ein Jahr nehmen.«

   Immer wieder gingen ihm diese Worte durch den Kopf, aber dessen Bedeutung konnte er nicht ergründen.