Christian ging zurück in den Wald. Dort suchte er zuerst den alten Rastplatz, um sich zu orientieren. Danach machte er sich auf den Weg, die Lichtung mit dem Baum zu suchen. Nach vier Stunden Herumirren hatte er sie immer noch nicht gefunden. Er versuchte, sich den Weg, den er gegangen war, noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Nach weiteren zwei Stunden gab er es auf. Die Lichtung und der Baum blieben unauffindbar.
Auf einer kleineren Lichtung angekommen legte er eine Rast ein. Seltsamerweise war sein Beutel immer noch mit Essbarem gefüllt. Sogleich holte er sich etwas Brot und Trockenfleisch heraus. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich hin und beobachtete den Himmel. Die langsam vorbeiziehenden Wolken ließen ihn schläfrig werden. Seine Augen fielen ihm von Zeit zu Zeit zu. Seine Gedanken waren mittlerweile so zäh, dass er sie kaum noch zu etwas Sinnvollem zusammenfügen konnte. Kurze Zeit später schlief er ein.
Das rotorange Leuchten des Himmels kündigte den Morgen an. Die Vögel sangen ihre Lieder zur Begrüßung des neuen Tages. Christian öffnete langsam die Augen, setzte sich auf und sah sich um. Es war eine warme Nacht und ein warmer Morgen, so dass er nicht gleich bemerkte, dass er im Freien übernachtet hatte. Nur langsam begriff er, dass er nicht mehr im Baum, seinem Zuhause, war. Die Ereignisse des vorherigen Tages stiegen wieder in sein Gedächtnis zurück. Er öffnete seinen Beutel und holte sich ein paar Früchte heraus. Kurz darauf machte er sich wieder auf den Weg. Da er immer noch nicht genau wusste, wohin er eigentlich gehen wollte, ging er einfach Richtung der aufgehenden Sonne. Nach einiger Zeit kam er an einen kleinen Bach, in dem er seinen Durst stillte. Dabei überlegte er, ob er nicht besser dem Bach folgen sollte, was er dann auch tat. An beiden Seiten des Baches standen die Bäume zuerst dicht an dicht. Nach etwa zwei Stunden wurden die Abstände immer größer, bis die Bäume durch Buschwerk abgelöst wurden. Christian folgte weiterhin dem Verlauf des Baches. Nach weiteren drei Stunden stand er vor einer Höhle, in der der Bach verschwand. Neugierig schaute Christian hinein, konnte jedoch wegen der darin herrschenden Dunkelheit nicht viel erkennen. Nur das leise Gurgeln des Wassers war zu hören. Christian ging langsam in die Höhle. Als er kaum noch etwas erkennen konnte, schloss er seine Augen, um sie schneller an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dabei lauschte er den Geräuschen, die der Bach verursachte. Da war noch etwas, was nicht vom Wasser verursacht worden sein konnte. Ein leises Klopfen, das sich anhörte, als ob jemand mit einem Stock auf Stein schlug. Er öffnete die Augen und versuchte, in der Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien, etwas zu erkennen. Aber es war zu dunkel. Vorsichtig tastete er sich weiter voran, wobei er an etwas stieß, stolperte und hinfiel. Geschickt rollte er sich so ab, dass er wohl nur ein paar blaue Flecke davontragen würde. In dem wenigen Licht, das in der Höhle noch vorhanden war, sah er einen länglichen Gegenstand, über den er gestolpert war. Auf allen Vieren krabbelte er zu dem Gegenstand und betastete ihn. Es war ein Holzstock, der zum einen Ende hin immer dicker wurde. In seinem Kopf entstand das Bild eines Gegenstandes, den er schon öfter benutzt hatte: Eine Fackel. Hastig kramte er in seiner Tasche, holte den Feuerstein heraus und versuchte die Fackel in Brand zu setzen. Es dauerte nicht lange, da brannte das dicke Ende lichterloh. Er nahm sie, nachdem er den Feuerstein in seiner Tasche verstaut hatte, in die Hand, stand auf und sah sich um. Er entdeckte eine alte Feuerstelle, ein Lager mit vermoderten Decken und ein paar Schüsseln, in denen sich Undefinierbares befand. Nichts von dem, was er sah, konnte er gebrauchen. Da hörte er wieder das leise Klopfen. Sofort machte sich Christian daran, den Verursacher zu finden. Mit der Fackel in der Hand wagte er sich immer tiefer in die Höhle hinein. Dem Bach weiter folgend ging er dem Geräusch entgegen. Es wurde immer lauter, so dass er nicht mehr stehen bleiben musste, um es zu orten. Nach etwa zehn Minuten hatte Christian das Ende der Höhle erreicht. Der Bach verschwand in einem kleinen Durchgang in der Wand, durch den Christian nicht gehen konnte. Dahinter konnte der Verursacher des Geräusches nicht sein, dachte er, und sah sich weiter um. An seiner linken Seite befand sich ein kleiner Durchgang, durch den er sich zwängen konnte. Hierzu musste er allerdings seinen Beutel abnehmen und mit der Fackel zusammen voranschieben. Der Durchgang war etwa zehn Meter lang. Dahinter befand sich eine weitere Höhle, die wesentlich geräumiger war, als die erste. Die Höhle, in der er jetzt stand, war so hoch, dass er die Decke mit dem Schein der Fackel nicht erhellen konnte. Das Geräusch, das er in der anderen Höhle gehört hatte, war hier wesentlich lauter. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, ging er in die Richtung, aus der es kam. Nach etwa zwanzig Metern erkannte er eine Nische, in der sich vertrocknete Zweige und Blätter befanden. Auf diese ging er zu. Als er vor der Nische stand, sah er, dass es sich um ein Nest handelte. Inmitten der Zweige und Blätter lag ein Ei, das so groß wie ein Kleinkind war. Christian berührte es vorsichtig. Es fühlte sich so glatt und warm wie ein von der Sonne geladener Speckstein an. Wieder vernahm er das Klopfen, es schien aus dem Inneren des Eis zu kommen. Als er es zu sich rollen wollte, sah er einen kleinen Riss in der Schale. Die Klopfzeichen kamen nun in immer kürzeren Abständen, wobei sich der Riss vergrößerte. Das Ei sprang auf und ein seltsames Tier kam zum Vorschein. Es hatte an seinem Rücken kleine Schwingen, die mit einer Haut bespannt waren. Sein Körper sah aus wie der einer Eidechse. Seine Haut war so weiß wie frisch gefallener Schnee. Es tapste zuerst unbeholfen hin und her, dann sah es Christian und ging auf ihn zu. Christian wich ein kleines Stück zurück, seine Neugierde trieb ihn jedoch wieder nach vorne. Sie betrachteten sich eine Zeit lang gegenseitig. Christian steckte die Fackel in ein Loch in der Wand und streckte seine Hand nach dem seltsamen Wesen aus. Dies kam zögerlich, immer wieder die Luft scharf durch die Nase einziehend, auf die Hand zu. Nach kurzer Zeit berührte es sie mit der Nase. Es fühlte sich warm und weich, aber zugleich fremd an. Immer wieder stupste das Wesen mit seiner Nase an Christians Hand. Dabei sog es die Luft ein. Auf einmal legte es seinen Kopf in Christians Hand und schmiegte sich daran. Danach dauerte es nicht lange und Christian nahm das Wesen auf den Arm. Beide beschnupperten sich, jeder auf seine Weise.
»Was bist du?«, fragte Christian laut vor sich hin, während er weiter das Wesen untersuchte.
»Ich bin ein Drache.«
Christian erschrak, als er diese Worte hörte. Er drehte sich in alle Richtungen, um den Sprecher zu finden.
»Wer ist da?«, rief er.
»Ich bin da. Auf deinem Arm.«
Christian sah den Drachen verwundert an. »Du ...?«
»Ja. Danke für den Namen, den du mir gegeben hast.«
»Welchen Namen?« Christian schüttelte den Kopf. »Ich hab dir keinen Namen gegeben!«
»Als du mich berührt hast, hast du mir den Namen Floh gegeben.«
Christian erstarrte. Es war der Name seines Vaters, der kurz vor Christians fünftem Geburtstag verstarb. »Und wieso kannst du sprechen, ohne dein Maul zu öffnen?«
»Wir kommunizieren über Gedanken. Du musst nicht laut aussprechen, wenn du mir etwas sagen möchtest.«
Christian probierte es sogleich und formte eine Frage in Gedanken. Kurz darauf antwortete ihm Floh. Auf diese Weise unterhielten sie sich, bis es langsam dunkel wurde. Die Fackel hatte keine Kraft mehr, um genügend Licht zu spenden. Es dauerte nur noch kurze Zeit, dann erlosch sie vollends. Christian geriet in Panik.
»Wie sollen wir jetzt aus der Höhle finden? Es ist so dunkel, dass ich nichts sehen kann.«
»Das ist kein Problem für mich. Ich kann im Dunkeln genau so gut sehen wie bei Tageslicht«, meinte Floh.
Christian suchte nach einem Seil in seinem Beutel und band dieses um Flohs Hals. So konnte er ihm folgen, ohne ihn zu sehen. Der Drache sprang von Christians Schoß und machte sich auf den Weg. Christian hatte Mühe hinter Floh herzugehen. Da er nichts sah, stolperte er ständig über irgendwelche Hindernisse. So kamen sie nur langsam voran. Christian kam es vor, als wären sie eine Ewigkeit unterwegs, als plötzlich ein schwaches Licht in weiter Ferne zu sehen war. Auf dieses Licht gingen sie zielstrebig zu. Nach etwa zwanzig Minuten konnte Christian bereits den Höhleneingang erkennen. Dort angekommen blieben beide stehen und sahen sich an. Christian bückte sich zu Floh, entfernte das Seil und verstaute es in seinem Beutel. Danach verließen sie die Höhle und begaben sich in den angrenzenden Wald. Während ihrer Wanderung entfernte sich Floh immer wieder kurzfristig von Christian. Gegen Mittag legten sie auf einer kleinen Lichtung eine Rast ein. Während Christian das Trockenfleisch und Brot aus seinem Beutel aß, verschwand Floh wieder im Wald. Kurze Zeit später kehrte er zurück.
»Was machst du eigentlich immer, wenn du weggehst?«, wollte Christian von ihm wissen.
»Essen«, sagte Floh kurz angebunden und legte sich neben ihn.
Floh schlief kurz darauf friedlich ein. Christian sah sich den kleinen Drachen zum ersten Mal richtig an. Er strich sanft mit seiner Hand über dessen Kopf und Rücken. Floh gab dabei Laute des Wohlbefindens von sich. Nur einmal öffnete er kurz die Augen und sah ihn an. Es dauerte nicht lange, da überkam auch Christian die Müdigkeit. Kurz darauf schliefen beide friedlich nebeneinander.
Am späten Nachmittag wurden sie fast gleichzeitig durch ein Geräusch geweckt. Sie sahen sich um und bemerkten einen Hirsch am Rande der Lichtung, der wohl beim Gehen einen Ast am Boden zerbrochen hatte. Als Floh den Hirsch sah, sprang er auf und stürmte mit so hoher Geschwindigkeit auf ihn zu, dass Christian es fast nicht mitbekam. Kurz darauf fiel der Hirsch zu Boden und Floh fing an zu fressen. Christian sah sich die Szene aus der Ferne an. Er hatte Angst, Floh könnte ihn ebenfalls anfallen.
»Du kannst ruhig kommen. Willst du nicht auch etwas von dem köstlichen Fleisch?«
Christian konnte zuerst nicht antworten. »Ja. Doch.« Langsam stand er auf und ging mit kurzen Schritten auf Floh zu.
»Hab keine Angst, ich tu dir nichts. Schließlich gehören wir ja zusammen.«
»Wie meinst du das?«
Floh antwortete nicht, er aß einfach weiter. Auch als Christian neben ihm stand und noch einmal fragte, bekam er keine Antwort. Christian beugte sich zu dem toten Hirsch hinunter, nahm sein Messer und schnitt ein Stück aus dem Hinterlauf. Er wollte gerade mit dem Fleisch zurück zum Lagerplatz, als Floh den Kopf hob und ihn anstarrte. Christian erschrak dabei so, dass er das Fleisch fallen ließ.
»Nimm dir, was du brauchst.«
Christian hob zögerlich das Fleisch wieder auf und ging zurück zum Lagerplatz. Dort legte er ein paar Zweige zusammen und entfachte ein kleines Feuer. Er wollte das Fleisch darauf braten. Damit es besser schmeckte, sammelte er ein paar Kräuter, die in der Umgebung wuchsen, und legte sie darauf. Von Zeit zu Zeit schnitt er ein kleines Stück vom Fleisch ab und probierte es. Als es durchgebraten war, kam Floh zu ihm. Ihm stieg der angenehme Geruch des Gebratenen in die Nase, woraufhin er wissen wollte, wie man so etwas machte. Christian erklärte ihm, wie man Fleisch briet und mit Kräutern und Salz würzte. Floh war davon so begeistert, dass er gleich etwas davon probieren wollte. Christian schnitt ein Stück vom Braten und reichte es Floh. Der schnupperte zuerst an dem Fleisch, dann öffnete er sein Maul und nahm zaghaft den Bissen aus Christians Hand. Kaum hatte das Fleisch Flohs Zunge und Gaumen berührt, da spuckte er es auch wieder aus.
»Das schmeckt ja abscheulich«, gab er zu verstehen und sah Christian mitleidig an.
»Mir schmeckt es so«, sagte Christian und nahm einen großen Bissen.
Als beide gesättigt waren, gingen sie weiter ihres Weges. Christian erklärte Floh, dass er ein Mädchen mit einem Drachen suche, da diese ihn aus dem Baum befreit hatten. Als Floh von der Farbe des anderen Drachen hörte, wurde er unruhig. Er meinte nur, dass er das Mädchen und den Drachen vergessen solle, da es zu gefährlich sei sie wieder zu sehen. Christian verstand dies nicht und fragte nach dem Grund. Floh wich aber der Frage aus. So sehr sich Christian auch bemühte etwas darüber zu erfahren, Floh antwortete nicht. Irgendwann gab Christian es auf und beide liefen schweigend nebeneinander. Als die Dämmerung hereinbrach, suchten sie sich einen Rastplatz. Während Christian Holz für das Feuer suchte, ging Floh auf die Jagd. Es war bereits dunkel, als er zurückkehrte. Beide hatten die Zeit genutzt, um über einiges nachzudenken. Als Versöhnungsgeschenk brachte Floh einen halben Hirsch, den er Christian zu Füßen legte. Der beachtete ihn zuerst nicht. Nach einigen Minuten jedoch sprachen sich beide aus. Christian erfuhr dabei, dass mit Drachen, die so bunt schillerten, nicht auszukommen war. Sie waren stets zu Streichen aufgelegt und brachten nur Schwierigkeiten.
Erst spät in der Nacht kamen sie zur Ruhe.
Die Suche nach dem Drachen und dem Mädchen dauerte fast ein Jahr. Während dieser Zeit wuchs Floh zu einem stattlichen Drachen, auf dem Christian auch reiten konnte. In den letzten Monaten ihrer Suche lernte Floh fliegen. Zu Anfang wollte Christian nicht mit, er hatte Angst. Eines Tages, als er gerade auf Floh ritt, breitete dieser die Schwingen aus und hob ab. Christian konnte nicht so schnell reagieren und abspringen und musste mitfliegen. Er klammerte sich so fest an Floh, dass ihm nach kurzer Zeit die Arme weh taten. Als Floh dies mitbekam, landete er. In den darauf folgenden Wochen versuchten sie es immer wieder. Es dauerte nicht lange, da hatte sich Christian an das Fliegen gewöhnt und Gefallen daran gefunden.