Sophie kam aus ihrer Schlafkammer und erkundigte sich nach dem Fremden, den sie am Abend vorher auf der Wiese gefunden hatten. Seimon hatte ihn die Nacht über beaufsichtigt und gepflegt.
»Schläft er noch?«
»Ja.« Seimon stand auf und ging Sophie entgegen. »Warte. Ich muss dir etwas sagen. Setzen wir uns an den Tisch.«
»Was ist los? Stimmt etwas mit ihm nicht?«
»Nein. Es ist alles in Ordnung. Er ist aber immer noch sehr schwach.« Seimon blickte Sophie in die Augen. »Er hat sich in der Nacht verändert. Er sieht jetzt anders aus, als noch gestern Abend.«
»Und? Was willst du damit sagen?«
»Er ist ... er ist dein Mann.«
Sophie zuckte zusammen. Dann sprang sie auf und rannte zu dem Bett, in dem der Fremde lag. Vorsichtig, mit Tränen in den Augen, beugte sie sich über ihn und sah ihm ins Gesicht. Die zwölf Jahre in der Unterwelt hatten ihm nichts anhaben können. Er sah immer noch so aus, wie damals. Langsam senkte sie ihren Kopf, um ihn zu küssen. Kurz bevor sie seine Lippen berührte, erwachte Fabian. Sophie hob ihren Kopf, als sie sah, wie er seine Augen öffnete.
»Er ist aufgewacht!«, rief sie voller Freude.
Fabian starrte vor sich hin, schien aber nichts zu sehen. Sophie strich in einiger Entfernung über seine Augen, sie reagierten nicht.
»Fabian, kannst du mich hören?«
Er antwortete nicht. Seine Augen bewegten sich hastig hin und her. Sein Atem wurde rascher. Seimon ging zu Fabian und schob dabei Sophie zur Seite. Er untersuchte ihn mittels Magie, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Fabian schien vollkommen gesund zu sein. Als Seimon mit seinen Händen über den Kopf von Fabian fuhr, durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Der Schmerz war so groß, dass er aufschrie und zurückwich. Sophie kam ihm sofort zur Hilfe.
In der Zwischenzeit waren Samanta und Christian ebenfalls aufgewacht. Sie wollten gerade nach dem Befinden des Fremden fragen, als Seimon aufschrie und nach hinten kippte.
»Was ist passiert?«, fragte Samanta
»Ich weiß es nicht. Etwas scheint in seinem Kopf nicht in Ordnung zu sein.«
Als Seimon erneut Fabians Kopf untersuchen wollte, schrie Christian: »Nein!« Er rannte zu Seimon und packte seine Hand. Er hielt sie so fest, dass Seimon sie nicht mehr bewegen konnte. Erstaunt sah er Christian an.
»Beim zweiten Mal würde es dich töten«, sagte Christian mit ruhiger Stimme. »Er muss sehr lange unter dem Zauber gelebt haben.« Er ließ den Arm von Seimon los und stellte sich neben Fabian. Kurz darauf klopfte es an die Tür. Samanta öffnete diese und war erstaunt, Floh davor stehen zu sehen.
»Lass die Tür geöffnet«, sagte Christian knapp, ohne dabei Fabian aus den Augen zu lassen.
Seimon ging zurück und setzte sich mit Samanta und Sophie an den Tisch. Von dort beobachteten sie das Geschehen.
Christian hob seine Arme und streckte sie über den Körper von Fabian aus. Langsam fuhr er mit seinen Händen in geringem Abstand über den gesamten Körper. Kurz vor dem Kopf hielt er jedoch inne und wechselte die Richtung. Es dauerte etwa zwei Minuten, dann konnte man ein leises Knistern hören. Die Luft schien sich mit Elektrizität aufzuladen. Alle Anwesenden verspürten ein leises Kribbeln. Plötzlich senkte Floh den Kopf und aus seiner Stirn waberte ein kleiner dünner Nebelfaden in Christians Richtung. Als der Faden Christian traf, wurde er von Sekunde zu Sekunde dicker, bis er die gesamte Szene vernebelte. Was nun geschah, konnten die Drei nicht mehr sehen, der Nebel war zu dicht. Nur ab und zu flammte ein Licht darin auf und gab schemenhafte Umrisse frei. Es vergingen mehrere Minuten, in denen alle gebannt auf den Nebel starrten. Plötzlich gab es einen grellen Lichtblitz und der Nebel war verschwunden. Christian stand immer noch mit ausgestreckten Armen vor Fabian, jedoch waren diese jetzt über seinem Kopf. Langsam senkte er die Arme und setzte sich auf den neben ihm stehenden Stuhl.
»Danke, Floh. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«
»Du bist bereits sehr stark. Du hattest meine Hilfe nicht nötig.«
Christian sah zur Tür und nickte dankend. Während Floh sich vom Haus entfernte, schloss sich die Tür langsam.
Seimon hatte sich von dem Lichtblitz als Erster erholt und eilte zu Christian.
»Ist alles in Ordnung?«
»Fabian geht es gut. Er braucht noch etwas Ruhe. Heute Nachmittag wird er aufwachen, dann könnt ihr ihn weiter behandeln.« Christian stand auf und ging zur Eingangstür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Samanta, deinem Vater geht es gut.« Danach war er verschwunden.
Samanta sah zuerst ihre Mutter und dann Seimon an. Beide hatten gesehen, wie Christian vor ihren Augen verschwand. Samanta rannte hinaus. Sie konnte jedoch weder Christian noch seinen Drachen finden. Verwundert über das eben Geschehene, ging sie zurück in die Hütte. Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. »Was hatte Christian da gesagt? Deinem Vater geht es gut?!« Immer wieder schüttelte sie den Kopf und sah dabei fragend von ihrer Mutter zu Seimon. Langsam ging sie zu dem Bett, in dem Fabian lag. Sie hatte ihren Vater nie gesehen. Der Fremde, den sie auf der Wiese beim Spielen gefunden hatte, sah nicht aus, als wäre er aus dieser Gegend. Als sie bei ihm eintraf, erschrak sie zuerst. Dieser Mann sah nicht mehr so aus wie noch vor Kurzem. Er hatte sich verändert. Der Mann, den sie auf dem Bett liegen sah, war wesentlich größer. Seine Haare waren nicht mehr dunkelbraun, sondern rot. Sein Gesicht war nicht mehr von Pusteln und Falten übersät. Seine Haut war glatt und straff. Als ihre Mutter ihren Arm auf Samantas Schulter legte, zuckte sie zusammen, so sehr war sie von dem Anblick fasziniert.
»Das ist dein Vater. Endlich kannst du ihn kennenlernen«, sagte Sophie mit tränenerstickter Stimme.
Samanta konnte es nicht glauben. Immer wieder sah sie sich den Mann an. Vorsichtig strich sie mit ihrer Hand über seinen Kopf. Als Fabian dabei die Augen öffnete, fuhr sie zurück. Kurz darauf schloss er sie wieder, ohne wach geworden zu sein. Samanta näherte sich ihm wieder. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und beobachtete ihn.
Wie Christian vorhersagte, kam Fabian am Nachmittag zu sich. Samanta rief nach ihrer Mutter, die sogleich zu ihr eilte. Fabian öffnete langsam die Augen und sah sich um. Als er Sophie erblickte, zog sich ein Lächeln über sein Gesicht.
»Schön, dich wieder zu sehen«, sagte Sophie mit Tränen in den Augen. Fabian wollte etwas sagen, doch Sophie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Ruhig, du brauchst noch Ruhe. Du kannst uns später alles erzählen.«
Fabian lächelte kurz und nickte dabei mit dem Kopf. Sein Blick fiel auf Samanta und wurde fragend und ungläubig. Samanta konnte den Gesichtsausdruck zuerst nicht deuten, bis ihre Mutter sagte: »Das ist unsere Tochter Samanta.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über Fabians Gesicht. Er schloss die Augen und schlief ein.
Kapitel 11