Dreier´s Bücherwelt: Dranchenfreunde


   »Warum mussten wir so schnell los? Ich wäre so gerne noch bei Samanta geblieben.«

   »Du wirst erwartet.«

   »Von wem?«

   Floh senkte seinen Kopf und legte die Schwingen an. Kurz darauf stürzten beide senkrecht nach unten.

   »Was ist los? Was machst du da?«

   »Wir haben nicht so viel Zeit. Man erwartet dich«, vernahm Christian. Immer schneller rasten beide auf die Erde zu. Es waren nur noch etwa fünfhundert Meter, bis sie aufschlagen würden. Floh hob langsam wieder seinen Kopf. Er versuchte die Flugbahn zu ändern, aber sie stürzten weiterhin senkrecht nach unten. Er breitete seine Schwingen weiter aus, um den Fall abzubremsen, aber es half nichts. Nur noch dreihundert Meter bis zum Aufschlag. Christian zog an Flohs Hals, um ihm bei seinem Flugmanöver zu helfen. Verzweifelt schlug Floh mit seinen Schwingen, aber der Boden kam immer näher. Sie waren nur noch fünfzig Meter vom Boden entfernt, als Floh ein letztes mal versuchte, die Flugbahn zu ändern.

   »Ich schaffe es nicht!«, schrie Floh verzweifelt in seinen Gedanken.

   Christian starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den sich nähernden Erdboden.

    

   Christian schrie und schreckte auf. Verwirrt sah er sich um. Er befand sich in einem ihm bekannten Raum. Er sprang aus dem Bett, rannte zur Tür, riss sie auf und schrie: »Baumgeist! Baumgeist, wo bist du?!« Dabei lief er hastig hin und her. Seine Stimme war voller Zorn und Hass. Es vergingen einige Minuten, bevor er sich wieder beruhigt hatte. Da sich der Baumgeist nicht meldete, ging er zurück in sein Zimmer. Vor der Tür jedoch blieb er abrupt stehen. »Floh!«, schrie es in seinen Gedanken. Er drehte sich um und lief zu der Stelle, an der er die Lichtung einsehen konnte. Floh lag zusammengerollt vor dem Baum und schien zu schlafen. Erleichtert atmete Christian durch. »Floh, Floh, geht es dir gut?«, formte er in Gedanken und sandte sie zu ihm. Floh reagiert zuerst nicht. Erst als Christian das zweite mal nach ihm rief, öffnete er langsam die Augen und sah zu ihm hoch. Zufrieden sandte Floh ein Lächeln zu Christian und schloss seine Augen wieder. Christian hatte sich daraufhin weiter beruhigt.

   »Christian!«

   Christian fuhr herum und sah den Baumgeist mit grimmiger Miene an. »Was sollte das? Du hättest uns beinahe umgebracht!«

   »Das ist jetzt nicht von Belang. Es ist an der Zeit, dass du dich erinnerst.«

   »Woran soll ich mich erinnern?«

   »An das, was ich dich die letzten einhundert Jahre gelehrt habe.«

   Christian starrte den Baumgeist entgeistert an. »Was soll ich gelernt haben? Ich war doch nur ein paar Wochen bei dir!«

   »Erinnere dich an den Tag, als du zu mir kamst.« Der Baumgeist hob den Arm und zeigte auf eine Stelle im Blätterdach. Christian folgte der Aufforderung und sah sich die Stelle an. Dort bildete sich ein dichter Nebelschleier. Darauf kamen, zuerst schemenhaft, dann immer deutlicher, Bilder zum Vorschein. Christian sah einen Jungen, der auf einen Baum zulief. Als der Junge vor dem Baum stand und den Stamm betrachtete, erkannte er, dass er dies war. Er sah, wie er damals vom Baumgeist festgehalten wurde. Dann verschwammen die Bilder und eine andere Szene wurde gezeigt. Christian sah sich, wie er vor einem Stapel Bücher saß und las. Dann wechselte die Szene wieder und er sah, wie er auf der Lichtung versuchte, den Baumgeist im Kampf zu besiegen. Er erkannte auch noch etwas: In den Szenen wurde er älter. Immer wieder zeigte der Nebel andere Bilder. Die Nebelwand wechselte abermals das Bild. Dort sah Christian, wie er als alter Mann vor dem Baum saß. Vor ihm stand ein kleiner Junge, der ihn ansah. Die letzte Szene zeigte die erste Begegnung mit Samanta und Floh. Dabei war er wieder jung. Der Nebel wurde allmählich transparenter, bis er gänzlich verschwand. Christian sah noch auf die Stelle, als bereits nichts mehr zu sehen war.

   »Erinnerst du dich jetzt?«

   Verwirrt wandte Christian sich dem Baumgeist zu. »Der alte Mann, das war ich?«

   »Ja. Dies war am Ende deiner Ausbildung.«

   Christian wurde schwindlig und er taumelte. Bevor er hinfiel, erschien ein Stuhl, auf den er sich setzen konnte. Er vergrub den Kopf in seinen Händen. Seine Gedanken kreisten um ihn. Alles drehte sich und schwankte. Er sah immer wieder die einzelnen Bilder, die ihm der Baumgeist gezeigt hatte. Langsam löste sich etwas von seinem Geist und die gesehenen Bilder ergaben einen Sinn. Es dauerte einige Minuten, bis er sich an das meiste davon wieder erinnern konnte. Das Schwindelgefühl ließ nach und die Bilder verschwanden allmählich. Als er wieder aufsah und den Baumgeist suchte, war dieser bereits wieder verschwunden. Langsam erhob Christian sich und ging los. Zielstrebig, ohne nachzudenken, steuerte er auf den Ausgang des Baumes zu. Dort angelangt sprach er die benötigten magischen Worte, und augenblicklich befand er sich auf der Lichtung neben Floh. Noch völlig verwirrt ging er auf ihn zu.

   »Was ist mit dir?«

   Christian vernahm die Worte von Floh nicht. Seine Gedanken waren immer noch von dem eben Gesehenen vernebelt. Erst als Floh ihn abermals ansprach und dabei mit seiner Schnauze berührte, wurden seine Gedanken klarer.

   »Hallo, Floh. Wusstest du davon?«

   Floh sah verlegen nach unten: »Ja.«

   »Warum hast du mir dann nichts gesagt?«

   »Ich durfte es nicht. Mein Va ... der Baumgeist hat es mir nicht gestattet.«

   Christian horchte auf. Dabei sah er Floh verwundert an. »Dein was? Er ist ...?«

   »Ja. Er ist mein Vater.«

   »Aber ... Dann ... Was ... Ich ...«, stotterte Christian.

   »Setze dich neben Floh. Ich werde es dir erklären«, sagte der Baumgeist, der hinter ihm erschienen war.

    

   Der Baumgeist erzählte, wie er zu dem wurde, was er war, und warum er Christian zu sich nahm. Die Unterhaltung dauerte über zwei Stunden, während Christian und Floh immer wieder Fragen stellten, die der Baumgeist bereitwillig beantwortete.

   »Nun kennst du meine Beweggründe. Ich erkannte erst später, was ich eigentlich getan habe. Deshalb habe ich dich als Kind zurückgeschickt und dir die Erinnerungen an die vergangenen einhundert Jahre genommen. Damit du nicht so alleine bist, habe ich dir Floh geschickt. Er sollte auf dich aufpassen und dir helfen Samanta zu finden. Ich hoffte, dass du dich im Laufe der Zeit wieder an das Gelernte erinnerst. Leider geschah dies nicht so schnell, wie ich annahm.«

   »Du hast mich meiner Familie und Freunde beraubt, nur damit DU ...!« Christian konnte vor Wut nicht weitersprechen. Ihm fehlten die Worte. Wie konnte ein so gutes und mächtiges Wesen so etwas Schreckliches tun? Er begriff es nicht. Als ihm die Tränen in die Augen stiegen, stand er auf und lief davon. Floh wollte ihm folgen, aber der Baumgeist hielt ihn zurück.

   »Lass ihn. Er benötigt Zeit, um es zu verarbeiten. Er wird zurückkommen, wenn er dazu bereit ist.«