Dreier´s Bücherwelt: Der kleine Magier


   Am nächsten Morgen ging Dieter genauso nachdenklich in sein Büro, wie er es am Vortag verlassen hatte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, holte die Ermittlungsakten hervor und studierte deren Inhalt.

   »Guten Morgen, Dieter«, sagte Rolf, der am anderen Schreibtisch saß.

   Dieter schreckte auf, er hatte ihn beim Hereinkommen nicht bemerkt.

   »Morgen, Rolf.«

   »Wie mir scheint, geht dir unser gestriges Gespräch nicht aus dem Kopf. Das ist gut so.«

   »Ja. Ich kann das alles noch nicht richtig begreifen.«

   »Lass uns einfach mit den Ermittlungen beginnen, dann wird dir alles klarer.«

   Rolf stand auf und gab Dieter zu verstehen, dass er ihm folgen sollte. Beide verließen das Büro und gingen in den Keller des Präsidiums. Rolf öffnete die Tür zur Asservatenkammer und bat Dieter hineinzugehen. Als beide sich in der Kammer befanden, schloss er die Tür von innen.

   »Komm mit«, Rolf ging zum anderen Ende des Raumes.

   Dort schob er ein Regal beiseite.

   »Wukno xuro«, sagte Rolf.

   Dieter traute seinen Augen nicht, als sich die Wand öffnete und einen Tunnel freigab. Gerade als er Rolf fragen wollte, wie er das gemacht hatte, ging dieser durch die Öffnung und verschwand. Dieter war so überrascht, dass er sich nicht bewegen konnte. Kurz darauf tauchte Rolf wieder auf.

   »Komm schon«, sagte er ungeduldig, nahm den verblüfften Dieter an die Hand und zog ihn durch die Öffnung.

   Kaum waren beide hindurchgegangen, da schloss sich die Wand und das Regal schob sich davor. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick und beide standen in einer großen Halle, von der mehrere Gänge ausgingen. Rolf führte Dieter zu einem der Gänge.

   »Wo sind wir?«, fragte der erstaunt.

   »Wir sind unterhalb der Stadt. Hier halten sich die meisten von uns auf.«

   Langsam gingen sie weiter. Nach etwa zweihundert Metern blieb Rolf vor einer Tür stehen und klopfte. Dieter hörte niemanden antworten, aber als Rolf die Tür öffnete und eintrat, folgte er ihm. Hinter der Tür war ein Raum von etwa acht mal neun Meter. An einem Ende stand ein großer verzierter Holztisch. Dahinter saß ein Mann über ein paar Unterlagen gebeugt. Sie traten vor den Tisch, wobei Rolf sagte: »Estoma holpa xatu gan«, und dabei eine Verneigung andeutete.

   Der Mann am Tisch sah kurz auf und zeigte auf zwei Stühle, auf die sie sich setzen sollten. Als beide saßen, wandte sich der Mann an Rolf.

   »Guten Tag, Rolf. Lange nicht mehr gesehen.«

   »Ja. Das müssen jetzt mindestens achtzig Jahre her sein.«

   Dieter konnte nicht glauben, was er soeben gehört hatte, ließ es sich aber nicht anmerken.

   »Wer ist das?«

   »Das ist ein Kollege von mir. Wir arbeiten an der Sache von Hans und Peter.«

   Beide unterhielten sich über dies und das, während Dieter aufmerksam zuhörte. Es dauerte einige Zeit, bis Rolf die entscheidende Frage stellte:

   »Wann kann ich Gunilla sprechen? Ich muss sie unbedingt etwas fragen.«

   »Das geht nicht, sie ist nicht in der Stadt. Gib mir deine Fragen, ich werde sie an sie weiterreichen.«

   Paul war innerlich verärgert, da er wusste, dass Gunilla ein paar Türen weiter saß, ließ es sich aber nicht anmerken.

   »Wenn das so ist, hier sind sie. Veranlasse bitte, dass sie den Umschlag so schnell als möglich bekommt. Es ist wichtig.«

   »Wie ich sehe, bist du wie immer auf alles vorbereitet«, sagte der Mann und nahm den Umschlag entgegen.

   Kurz darauf standen Rolf und Dieter auf, verabschiedeten sich und verließen den Raum. Als sie die Tür hinter sich schlossen, meinte Rolf: »Dieser arrogante Kerl. Es ist immer das Gleiche mit ihm. Er kann mich einfach nicht leiden.«

   »Wieso? Ich fand ihn ganz nett.«

   »Gunilla sitzt dort vorne hinter der Tür. Ich sollte einfach zu ihr gehen.«

   »Warum tust du es nicht?«

   »Sie ist unsere Königin. Man geht nicht einfach zu ihr, um sie etwas zu fragen.«

   Dieter verstand, was er damit meinte, und hakte nicht weiter nach. Gemeinsam gingen sie zurück ins Präsidium.

   »Wie alt bist du eigentlich, wenn du den Mann vorhin seit achtzig Jahren nicht gesehen hast?«

   Rolf überlegte, wie und was er seinem Kollegen noch anvertrauen konnte.

   »OK. Der, den du eben kennengelernt hast, ist einhundertneunundachtzig. Ich bin vierhunderteinundzwanzig.«

   Dieter starrte Rolf an. Er konnte nicht glauben, dass Rolf so alt war.

   »Vierhunderteinundzwanzig!? Das kann unmöglich sein! Wie … ?«

   »Ich bin ein Magier und Magier unseres Volkes leben etwas länger als alle anderen.«

   »Ist er auch ein Magier?«, fragte Dieter und deutete auf den Boden.

   »Nein, das ist er nicht. Er hat nur noch etwa siebzig Jahre zu leben.« 

   Dieter schüttelte ungläubig den Kopf, fragte aber nicht weiter nach, da er befürchtete, noch mehr Unglaubliches zu erfahren.

   

   Gegen Mittag waren Rolf und Dieter bei dem zerstörten Haus von Hans. Es war immer noch abgesperrt, da die Ermittlungen nicht abgeschlossen waren. Rolf steuerte zielsicher auf den Platz zu, auf dem die Tote gefunden wurde. Dort legte er ein Trümmerstück nach dem anderen beiseite und sah sich alles genau an.

   »Hier muss noch etwas sein, das die Spurensicherung übersehen hat.«

   »Wenn du mir sagst, was du genau suchst, dann kann ich dir vielleicht helfen.«

   »Suche einfach nach Spuren, die eigentlich nicht hier sein dürften.«

   Dieter verstand nicht ganz, was Rolf meinte, fing aber sofort an zu suchen. Gemeinsam durchsuchten sie das Trümmerfeld. Nach etwa zwei Stunden rief Dieter: »Rolf, hier ist etwas!«

   Rolf eilte zu ihm und sah sich dessen Fund an. Es war ein Stück von einem Türrahmen. Auf diesem befand sich eine tiefe Brandspur, die nicht von der Explosion stammen konnte. Rolf kniete sich hin, um die Spuren besser untersuchen zu können. Während dessen strich er immer wieder mit seiner Hand darüber und murmelte etwas, was Dieter nicht verstand. So vergingen einige Minuten, bis Rolf aufstand und mit einem Tritt den Türrahmen zerstörte.

   »Warum hast du das getan?«

   »Zur Sicherheit. Ich möchte nicht, dass jemand davon erfährt.«

   »Was soll niemand erfahren?«

   »Dies war die Spur einer Huktra. Dabei handelt es sich um eine magische Waffe, die absolut tödlich ist, auch für Magier. Lass uns weitersuchen, vielleicht finden wir noch etwas.«

   Beide fingen wieder mit ihrer Suche an. Nach weiteren drei Stunden meinte Rolf: »Lassen wir es für heute gut sein. Gehen wir zurück ins Präsidium.«