Rolf stand vor Dieters Wohnungstür und klopfte leise an. Er wollte Peter nicht wecken, denn es war erst sechs Uhr. Es dauerte nicht lange, da öffnete Dieter die Tür und bat ihn herein.
»Ich habe uns Brötchen mitgebracht. Schläft er noch?«
Dieter zuckte mit den Schultern und meinte: »Keine Ahnung. Er hat heute Nacht öfters aufgeschrien. Seit ein paar Stunden ist alles still.«
»Konntest du ihn gestern Abend noch wegen Paul fragen?«
»Ich habe es versucht, aber er hat den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Es geht ihm sehr nah, dass er seinem Vater nicht helfen konnte.«
Rolf half Dieter mit dem Zubereiten des Frühstücks. Sie waren gerade damit fertig, als Peter zu ihnen kam.
»Guten Morgen, Peter. Hast du gut geschlafen?«, fragte Rolf.
Peter antwortete nicht. Er setzte sich an den Tisch und starrte vor sich hin.
»Was hat er nur?«, wunderte sich Dieter.
»Ich weiß es auch nicht.«
Es schien, als würde Peter schlafwandeln. Er reagierte nicht auf die Fragen der beiden Polizisten.
Plötzlich schreckte er auf und schrie verzweifelt: »Nein!«
Er sprang so schnell auf, dass der Stuhl, auf dem er saß, nach hinten kippte.
»Peter, was hast du?«, fragte Dieter besorgt.
Peter sah ihn entgeistert an, öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte über seine Lippen. Es dauerte einige Sekunden, bis er sprechen konnte.
»Er hat ihn gefoltert«, sagte er mit erstickter Stimme. »Er hat es mir gezeigt.«
Rolf und Dieter verstanden zuerst nicht, was er damit meinte. Dann jedoch erinnerten sie sich an seinen Vater und was mit ihm geschehen war.
»Beruhige dich. Er wird ihm nichts tun, solange du noch im Besitz des Pulvers bist«, meinte Rolf.
Peter setzte sich wieder, legte seinen Kopf auf den Tisch und fing an zu weinen. Dieter ging zu ihm und wollte ihn trösten, aber Rolf hielt ihn zurück.
»Lass ihn. Es ist besser, wenn er sich erst einmal ausweint.«
»Er ist erst zehn. Meinst du nicht, wir sollten ihm Mut machen und ihn trösten?«
»Nein. Er muss damit selbst fertig werden. Wenn es zu einem Kampf mit Mawas kommt, wird es ihm helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.«
Rolf und Dieter setzten sich an den Tisch und frühstückten. Irgendwann hob Peter den Kopf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und nahm sich ein Brötchen. Sie aßen schweigend, während die Polizisten darauf warteten, dass Peter den ersten Schritt machte.
»Wir haben nur noch zwei Tage, bis Mawas zuschlagen wird«, sagte Peter auf einmal.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Rolf.
»Irgendetwas wird in zwei Tagen passieren. Ich weiß noch nicht was, aber Mawas braucht das Pulver dafür.«
»Was geschieht, wenn er es nicht bekommt?«, warf Dieter ein.
Peter hob die Schultern an und meinte: »Ich denke, er wird alles versuchen was in seiner Macht steht, um rechtzeitig an das Pulver zu kommen. Wenn es sein muss, wird er die ganze Stadt auslöschen, vielleicht auch mehr.«
Rolf und Dieter wunderten sich über die Gleichgültigkeit, mit der Peter seinen letzten Satz ausgesprochen hatte.
Als es Peter auffiel, fügte er hinzu: »Wollen wir hoffen, dass ich es verhindern kann.«
Er stand auf und ging zielstrebig zur Eingangstür.
»Wo willst du hin?«, rief ihm Dieter nach.
»Ich muss zu Mawas. Ich muss herausfinden, was er vorhat.«
Bis Rolf und Dieter sich rührten, war Peter bereits durch die Tür verschwunden. Sie liefen ihm noch nach, fanden ihn aber nicht mehr.
»Verdammt! Er ist uns entwischt«, fluchte Rolf.
Derweil lief Peter eilig Richtung Innenstadt. Nach nur wenigen Minuten kam er zur Fußgängerzone, wo sich das Tor zu Mawas Festung befand. Da es noch früh am Morgen war, waren nur vereinzelte Leute unterwegs, was ihm ganz recht war. Er stellte sich vor die beiden Lichtmasten, die sich am Anfang der Fußgängerzone befanden, und blickte aufmerksam um. Niemand schien ihn zu beobachten. Entschlossen sprach er die Zauberformel. Einen Augenblick später trat er zwischen die Lichtmasten und verschwand.
Er fand sich innerhalb der Festung von Mawas wieder. Das Tor führte direkt in sein altes Zimmer, in dem er fünf lange Jahre verbracht hatte. Alles schien unverändert, als wäre er nie weg gewesen. Das Bett war noch so unordentlich, wie er es verlassen hatte. Seine Kleider und Spielsachen lagen auf dem Boden verstreut. Als er all dies sah, fühlte er sich plötzlich wieder wie zuhause. Doch diese Gefühlsregung hielt nicht lange an. Schnell besann er sich, wo er sich befand. Bevor er sich auf die Suche nach seinem Vater machte, umgab er sich mit einem Bann. Dieser sollte verhindern, dass die Festung ihn verriet. Vorsichtig schlich er aus dem Zimmer und in Richtung Verlies, wo er seinen Vater vermutete. Glücklicherweise befanden sich auf dem Weg dort hin zahlreiche Säulen, hinter denen er sich verstecken konnte, wenn ihn ein Diener über den Weg lief. Nach nur wenigen Minuten schaffte es Peter bis vor die Tür zum Verlies. Er wusste, wenn er sie öffnete und in den Gang eintrat, gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken. Die Treppe hinab zu den Verliesen bot keine Nischen. Vorsichtig öffnete er die Tür und lauschte. Gerade als er hindurchgehen wollte, hörte er ein leises Geräusch. Offensichtlich kam jemand die Treppe hoch. Schnell schloss er die Tür wieder und versteckte sich hinter einer der Säulen. Die Tür wurde aufgerissen und Mawas stürmte heraus. Er stieß die Tür so heftig auf, dass sie an der Wand abprallte und wieder ins Schloss fiel. Aufgebracht raste Mawas an der Säule vorbei, hinter der sich Peter versteckt hatte. Peter bewegte sich um die Säule herum, damit Mawas ihn nicht sehen konnte. Mawas war nur wenige Schritte von der Säule entfernt, als er plötzlich stehen blieb und horchte. Peter stockte der Atem. Hatte er ihn doch bemerkt? Mawas drehte sich langsam um und sah direkt in Peters Richtung. Mit leisen Schritten näherte er sich der Säule. Peter blieb die Luft weg. Er hatte Angst einzuatmen. So leise als möglich schob er sich um die Säule, weg von Mawas. Mawas blieb kurz vor der Säule stehen, dann schüttelte er den Kopf, drehte sich wieder um und ging weiter in Richtung Labor. Als Peter glaubte, dass Mawas weit genug weg war, holte er zitternd einen tiefen Atemzug. Erleichtert ging er zu der Tür zum Verlies, öffnete sie und ging hindurch. Die dahinterliegende Treppe verlief zuerst gerade und dann in Spiralen nach unten. Es waren einhundertfünfunddreißig Stufen, wie Peter genau wusste, da er sie schon oft gezählt hatte. Er musste sie täglich mindestens zehnmal hinunter und wieder hinaufgehen. Mawas wollte, dass Peter seine Beine stärkte.
Unten ging er die einzelnen Verliese ab. Die ersten drei waren nicht verschlossen, so dass er hineinsehen konnte. Das vierte Verlies jedoch ließ sich nicht öffnen. Peter lauschte an der Tür. Ein leises, kaum hörbares Stöhnen drang an sein Ohr. Vorsichtig versuchte er noch einmal die Tür zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Er sah zur linken Seite der Tür, wo üblicherweise ein Schlüssel hing. Der Platz war jedoch leer. Der Schlüssel war wie vom Erdboden verschwunden. Da erinnerte sich Peter an einen Zauber, den er schon einmal zum Öffnen einer verschlossenen Tür verwendet hatte. Aber konnte er ihn ohne Gefahr anwenden? Würde nicht Mawas etwas davon mitbekommen?
»Nein«, dachte Peter, »er ist bestimmt in seinem Labor und dort dringt so schnell nichts ein.«
Er sprach die Formel und griff sogleich zum Türriegel. Diesmal ließ er sich bewegen. Vorsichtig öffnete Peter die Tür und sah hinein. Auf der Pritsche an der hinteren Wand schien jemand zu liegen. Langsam und leise näherte er sich ihr. Mit jedem Schritt wurde er aufgeregter. War es wirklich sein Vater? Die Gestalt auf der Pritsche schien ihn bemerkt zu haben, denn sie drehte den Kopf zu ihm. Peter erschrak, als er das Gesicht sah. Es war nur noch eine fleischige Masse, die kaum einem Gesicht ähnelte. Als die Gestalt einen Arm hob, sah Peter, dass es nicht sein Vater sein konnte. Es war eines der Wesen, die in dieser Welt lebten. Mawas musste ihn gefoltert haben. Peter hatte Mitleid mit ihm und versetzte ihn in einen tiefen Heilschlaf. Er deckte ihn zu, ging aus dem Verlies und verschloss die Tür. Die Suche ging weiter. Die nächsten beiden Verliese waren leer, im siebten hörte er wieder ein leises Stöhnen. Diesmal nahm er eine Fackel von der Wand und leuchtete die Pritsche aus. Dort lag zusammengekrümmt sein Vater. Hastig steckte Peter die Fackel neben der Pritsche in die Wand und beugte sich über ihn. Vorsichtig berührte er zuerst seinen Kopf. Hans öffnete mühsam die Augen und drehte langsam den Kopf zu Peter. Seine Augen weiteten sich erstaunt.
»Was ... du ...?«, stammelte sein Vater.
»Ganz ruhig. Ich werde dich hier rausholen. Was hat er dir angetan?«
»Folter.«
Bei diesem Wort verspürte Peter eine unbändige Wut, die er so nicht kannte. Sein Vater krümmte sich immer wieder vor Schmerzen. Peter versuchte ihm den Schmerz mit einem Heilzauber zu nehmen. Mit der Zeit fing Hans an sich zu entspannen. Erst nach etwa einer Stunde war er so weit genesen, dass er sich aufsetzen konnte.
»Bist du verrückt? Und wenn er dich hier findet?«
»Ich bin vorsichtig. Er wird mich schon nicht finden.«
»Er wird sicherlich gleich wieder hier auftauchen und was dann?«
»Bis dahin sind wir schon zuhause«, sagte Peter und drängte seinen Vater aufzustehen.
Hans konnte jedoch noch nicht alleine laufen und musste sich auf Peter stützen. Mit langsamen Schritten gingen beide zum Ausgang. Kaum hatten sie das Verlies verlassen, da hörten sie Schritte die Treppe hinunterkommen.
»Dort, in das Verlies. Da können wir uns verstecken«, flüsterte Peter seinem Vater zu.
Sie hatten ihr Versteck gerade erreicht, als eine Gestalt am Treppenabsatz sichtbar wurde. Sie ging auf das vierte Verlies zu, öffnete die Tür und trat ein. Kurze Zeit später kam sie wieder heraus und ging die Treppe hinauf.
»Er hat ihm sicherlich nur sein Essen gebracht«, sagte Peter leise.
Als sie hörten, wie die Tür zur Treppe ins Schloss fiel, starteten sie einen erneuten Versuch. Wie durch ein Wunder schafften sie es bis in Peters altes Zimmer, ohne entdeckt zu werden.
»War das dein Zimmer?«, fragte Hans und schaute sich um.
»Ja, hier habe ich gewohnt. Komm, wir müssen durch das Tor«, drängte Peter und zeigte auf den Wandschrank.
Hans sah ihn nur verständnislos an. Erst als Peter ihn am Arm zog, ging er mit ihm. Sie hatten gerade den Wandschrank betreten, als sie hörten, wie die Zimmertür geöffnet wurde. Peter sah noch, wie Mawas hineinstürmte, dann verschwand alles vor seinen Augen. Kurz darauf standen sie in der Fußgängerzone in Neustadt. Einen kleinen Jungen, der an den Laternesäulen gespielt hatte, hatten sie dabei fast umgestoßen.
Mawas hörte ein Geräusch aus dem ehemaligen Zimmer seines Schülers. Er riss die Tür auf, stürmte hinein und sah sich um. Er durchsuchte mehrmals das gesamte Zimmer, fand jedoch nichts. Dann setzte er sich in die Mitte des Raumes und schloss die Augen.
Vor seinen Augen zeigte sich das Kinderzimmer, wie er es betreten hatte. Nach und nach ging er in die Vergangenheit zurück und beobachtete, was darin geschah. Er sah, wie Peter mit seinem Vater aus dem Wandschrank kam und zur Tür ging. Dann ließ er die Zeit wieder vorwärts laufen, bis er im Jetzt ankam.
»Dort bist du also entkommen. Mal sehen, ob ich das Tor verwenden kann.«
Mawas stand auf und ging zum Wandschrank. Er schaute zuerst hinein, um sich zu vergewissern, dass sich keine Falle darin befand. Mittels Magie prüfte er das Innere. Ein leichtes Leuchten zeigte ihm, dass Peter dort einen Schutz angebracht hatte.
»Du hast viel bei mir gelernt. Dann muss ich mir etwas einfallen lassen.«
Da er den Schutz nicht entfernen konnte, entschloss er sich, einen weiteren Schutzzauber um den Schrank zu legen. Dieser sollte ihn warnen, sobald jemand versuchte hindurchzugehen.