Ein Junge kam gerade aus einer Seitenstraße, als der Schulbus vor dem Schulgelände hielt. Er wich zurück und versteckte sich hinter einem der Bäume, die entlang der Straße standen. Nervös beobachtete er, wie die Kinder aus dem Bus stiegen und auf den Schulhof liefen. Als der Bus wieder abfuhr, stand immer noch eine Gruppe Kinder an der Bushaltestelle. Der Junge erschrak, als er die Gruppe sah und jemanden erkannte. Die Kinder in der Gruppe beobachtend, ging er in deren Richtung.
»Hoffentlich sehen sie mich nicht.«
Der Junge näherte sich der Gruppe so unauffällig wie möglich. Er erreichte die niedrige Umrandung des Schulhofes, ohne gesehen zu werden. Vorsichtig, immer wieder zur Gruppe der Kinder blickend, versuchte er die Umrandung zu übersteigen. Er erschrak, als plötzlich ein Junge aus der Gruppe auf ihn zeigte.
»Da ist er!«
Die Kinder liefen dem Jungen entgegen. Vor Aufregung blieb er mit seinem Hosenbein am Gitter der Mauer hängen. Verzweifelt zerrte er an der Hose, um sein Bein freizubekommen. Die Gruppe hatte ihn fast erreichte, da gelang es ihm. Allerdings hatte er so fest gezogen, dass er, als das Bein frei war, auf den Schulhof fiel und sich verletzte. Er war dabei aufzustehen, als einige der Kinder über die Umrandung sprangen und sich auf ihn stürzten. Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, was ihm allerdings nicht gelang. Dies lag nicht an seiner Körperfülle, es waren zu viele, die ihn festhielten. Als die Gruppe vollständig bei ihm eingetroffen war, wehrte er sich nicht mehr. Einer aus der Gruppe stellte sich provozierend vor ihn.
»Hallo Sven. Hast wohl gedacht, du könntest uns entkommen.«
»Nein. Ich ...«
»Halts Maul! Du weißt ja, was jetzt kommt? Los durchsucht ihn!«
Die Kinder, die ihn festhielten, durchsuchten ihn, nahmen ihm die Geldbörse ab und verstreuten den Inhalt seiner Schultasche auf dem Schulhof.
»Mal sehen, was du heute für uns hast.«
Dem Sprecher der Gruppe wurde die Geldbörse gereicht. Er öffnete diese, schaute hinein und holte etwas heraus.
»Ist das etwa alles!?«, fragte er Sven mit strenger Stimme und wedelte mit einem fünf Euro Schein vor dessen Nase.
Sven konnte die Tränen nur schwer zurückhalten.
»Das ist alles, was ich habe«
»Morgen will ich mehr sehen!«
Er schleuderte Sven die Geldbörse ins Gesicht, wendete sich dabei ab und gab seinen Kameraden durch ein Handzeichen zu verstehen, Sven loszulassen. Die Gruppe ließ ihn allein. Er sammelte seine Sachen ein, verstaute sie in der Schultasche und ging ins Klassenzimmer. Einer seiner Mitschüler kam zu ihm.
»Warum lässt du dir das gefallen?«
Sven antwortete nicht, er sah ihn nur an, ihm standen immer noch die Tränen in den Augen. Der Junge winkte ab und setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Riiiiiiing Riiiiiiing.«
Die Kinder stürmten voller Vorfreude auf das Wochenende aus dem Klassenzimmer, nur Sven blieb noch sitzen. Als alle gegangen waren, stand er auf und ging zum Fenster, um nachzusehen, ob der Schulhof leer war. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, nahm er seine Sachen und ging zur Tür des Klassenzimmers. Ängstlich schaute er durch den Türrahmen, um zu sehen, ob sich eventuell doch noch jemand im Gang befand. Als er niemanden sah, verließ er das Klassenzimmer und begab sich zum Ausgang. Auch dort sah er zuerst nach, ob sich noch jemand in Reichweite befand. Langsam ging er sich immer wieder um blickend über den Schulhof. An der Straße angekommen, ging Sven nicht wie sonst auf direktem Weg nach Hause, er ging in Richtung Stadtmitte.
Nach etwa zwei Stunden kam Sven nach Hause und öffnete die Wohnungstür.
»Bist du das, Sven?«
»Ja Mama.«
Seine Mutter kam aus der Küche und sah ihn an.
»Das Training muss ja wieder anstrengend gewesen sein«, sagte sie mitleidvoll.
»Ich habe nicht richtig aufgepasst und mich an den Geräten gestoßen.«
Es war eine Lüge, aber was würde es bringen, seiner Mutter von den Gemeinheiten seiner Mitschüler zu berichten. Er ging in sein Zimmer, das er mit seinem jüngeren Bruder teilte. Der lag auf seinem Bett und las Comics. Sven warf die Schultasche unter seinen Schreibtisch, holte sich frische Kleider aus dem Schrank und ging ins Badezimmer. Nach etwa zwanzig Minuten kehrte er in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und überlegte, was er am Wochenende unternehmen sollte.
Das Haus, in dem er wohnte, bot sehr viele Möglichkeiten Abenteuer zu erleben. Es stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert und war zum größten Teil noch original erhalten. Vor allem der Keller des Hauses war ein Abenteuerspielplatz. Er war wesentlich größer angelegt worden als das Haus. Man konnte dort weit unter die angrenzende Straße und Nachbarhäuser gehen. Es gab Gänge und Nischen, in denen Sven noch nie war.
Sven hatte unruhig geschlafen. Als er wach wurde, war es noch früher Morgen. Er legte die Decke beiseite und setzte sich auf den Rand des Bettes.
»Hätte nie gedacht, dass ich es schaffe. Hoffentlich lassen sie mich wenigstens am Wochenende in Ruhe. Heute werde ich zwölf, mal sehen, was der Tag so alles bringt.«
So leise wie möglich zog er sich an. Er wollte seinen Bruder nicht wecken, der im anderen Bett schlief. Sacht nahm er seine Taschenlampe vom Nachttisch und tastete sich zur Zimmertür vor. Langsam öffnete er diese und trat in den Hausflur. Um nicht zu viel Lärm zu machen, lehnte er die Tür nur an. Auf Zehenspitzen schlich er durch den Hausflur Richtung Wohnungstür, als plötzlich ein Geräusch aus dem Zimmer seiner Eltern zu hören war. Mitten in der Bewegung verharrte er und lauschte. Es war nichts zu hören.
»War wohl doch nichts.«
Sven schlich weiter zur Wohnungstür. Vorsichtig griff er nach der Klinke und öffnete so leise wie möglich die Tür, aber nur so weit, dass er hindurchschlüpfen konnte. Als er draußen war, schloss er diese wieder.
»Jetzt kann ich endlich den Keller weiter untersuchen.«
Beschwingt ging er die Treppe vom dritten Stock nach unten.
»Mist, jetzt hab ich den Kellerschlüssel vergessen, aber zurück kann ich nicht mehr. Sonst wecke ich vielleicht doch noch jemand auf.«
Im Erdgeschoss angelangt, verließ er das Haus und begab sich in den Hof, wo sich der Eingang zum Keller befand. Behutsam legte er die Hand auf die Türklinke und drückte diese herunter. Die Klinke ließ sich nur schwer betätigen, langsam senkte sie sich nach unten. Sven vernahm ein leises Knacken, dann gab die Verriegelung nach und die Tür sprang auf.
»Glück gehabt.«
Langsam zog er an der Tür, bis der Spalt groß genug war, um auf die erste Stufe zu treten. Mit der rechten Hand tastete er an der Wand nach dem Lichtschalter. Nachdem er den Schalter gefunden und gedreht hatte, wurden die Treppe im unteren Teil und der Keller erhellt. Im oberen Bereich war die Lampe defekt, somit waren die Stufen nur schwer zu erkennen. Er schloss die Tür hinter sich und ging achtsam die fünfzehn Stufen hinunter. Auf halber Höhe rutschte er aus und verlor das Gleichgewicht. Sven konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, sonst wäre er die Treppe hinunter gestürzt. Sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, atmete er tief durch. Als er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, ging er vorsichtig weiter. Unten angekommen sah er sich zuerst einmal um. Der Gang auf der rechten Seite führte unter das Haus, in dem Sven lebte. Dort waren die Kellerräume der Mieter untergebracht. Der Vordere war mit einem Gitter versehen. In ihm befanden sich die Lagerräume einer Elektrofirma, die sich in einem Nebengebäude angesiedelt hatte.
»Heute werde ich mir den Gang links vornehmen.«
Sven schaltete das Licht aus, seine Taschenlampe an und machte sich auf den Weg. Auch hier gab es, wie im rechten Bereich des Kellers, Nischen, die durch Holzgitter getrennt waren. Die Türen dazu waren nicht alle verschlossen, so konnte er einige der Nischen näher untersuchen. Gerade als er aus einer Nische zur nächsten gehen wollte, sah er eine Unregelmäßigkeit an der Wand. Es war ein Durchgang, der schon vor langer Zeit zugemauert worden war.
»Was mag da wohl dahinter sein?«
Er untersuchte die Wand, fand jedoch nichts, was ihn weiterbringen würde. Nach kurzer Zeit verlor er das Interesse und ging weiter. Die Nischen, die danach kamen, waren alle leer. Plötzlich verengte sich der Gang, es gab keine abgetrennten Nischen mehr. Die Wände rechts und links bildeten mit der gewölbten Decke einen engen Gang. Sven breitete die Arme aus, um zu prüfen, wie breit der Gang war. Er konnte die Wände mit seinen Fingerspitzen berühren. Langsam ging er weiter und beleuchtete dabei mit seiner Taschenlampe die Wände. Nach etwa dreißig Schritten endete der Gang.
»Was mach ich jetzt?«
Mit der Taschenlampe und seinen Händen untersuchte er die Wand vor sich. An der rechten Seite, wo diese auf die Seitenwand traf, war ein kleiner Spalt, durch den ein leichter Luftzug wehte.