Endlich Wochenende


   Sven und Lisa standen neben dem Palast und sahen sich um.

   »Lisa, wir sind direkt am Palast.«

   Sven drehte sich zu Lisa um.

   »Ich sehe es.«

   Sven schaute Lisa mit vor Erstaunen offenem Mund an.

   »Du kannst wieder sehen?«

   »Ja.«

   Sven schaute an sich herunter. Er hatte keine sportliche Figur, wie er es erhofft hatte. Er sah genau so aus, wie zu Hause, ein paar Kilo zu viel.

   »Das verstehe ich nicht. Warum kannst du sehen und ich … bin immer noch so?«

   »Das weiß ich auch nicht. Aber mach dir nichts daraus. Es wird sich bestimmt wieder ändern.«

   »Achtung, die Wachen«, Sven zog Lisa hinter einen nahe gelegenen Busch.

   »Sie suchen uns immer noch.«

   »Ja, so sieht es aus.«

   »Kannst du Ben irgendwo sehen?«

   »Nein, du?«

   »Nein, wir müssen näher an die große Hütte. Dort wurde er doch vom Pfeil getroffen.«

   Beide machten sich im Schutz der Bäume und Sträucher auf den Weg zur großen Hütte. Sie erreichten sie, ohne gesehen zu werden, und liefen danach weiter in die Richtung, in die Ben gelaufen war.

   »Eigentlich müsste er dort drüben liegen«, meinte Sven.

   »Vielleicht sind sie ja weiter gelaufen.«

   »Ben wurde doch getroffen und Garum konnte auch nicht mehr alleine laufen.«

   »Dann haben sie beide geholt oder sie konnten sich kriechend davonschleichen.«

   »Hoffen wir, dass sie sich retten konnten.«

   Beide suchten weiter in Richtung Mauer, in die Ben und Garum gelaufen waren. Sie blieben dabei so weit es ging in Deckung, um nicht gesehen zu werden. Überall waren Wachen, die hastig die Gegend absuchten. Einmal hätten sie Lisa und Sven beinahe entdeckt, aber sie konnten sich gerade noch hinter einer Hecke verstecken.

   »Sie haben sie noch nicht gefunden«, stellte Sven fest.

   »Wo sind die beiden nur?«

   »Wir werden sie schon finden.«

   Sie suchten weiter in den Büschen und unter den Bäumen.

   »Sie müssen den Park verlassen haben, aber wie?«, fragte Sven.

   »Ben ist doch Magier.«

   »Ja, aber er ist verletzt. Der Bann der Magier des Königs wird sicherlich noch wirken.«

   »Dann müssen wir uns beeilen. Ich weiß nicht, wie lange wir weg waren.«

   »Es kann nicht lange gewesen sein. Sonst würden die Wachen nicht immer noch suchen.«

   »Wenn er sich und Garum unsichtbar gemacht hat, dann finden wir sie nie.«

   »Wir werden sie schon finden.«

   Sven untersuchte gerade einen Busch, als er ein Geräusch hörte: Es war ein Stöhnen. Behutsam bog er ein paar Zweige zur Seite, um besser ins Innere sehen zu können.

   »Lisa, komm her. Hier ist etwas.«

   Lisa ging zu ihm und schaute in den Busch, konnte jedoch nichts erkennen.

   »Ich kann nichts sehen.«

   »Da war eben noch so etwas wie ein Stöhnen.«

   »Ben! Garum!«, rief Lisa.

   »Nicht so laut«, sagte Sven. »Sonst hören uns die Wachen noch.«

   »Ben! Garum!«, rief Lisa wieder, diesmal aber wesentlich leiser.

   Da erschienen plötzlich Umrisse in dem Gebüsch: Es waren Ben und Garum.

   »Da sind sie!«

   Der Pfeil in Bens rechter Schulter hatte diese durchbohrt und schaute vorne wieder heraus. Ben lag auf der Seite und stöhnte, Garum saß neben ihm und hatte einen Pfeil im linken Bein. Lisa und Sven setzten sich neben die beiden auf den Boden.

   »Ben, kannst du uns alle unsichtbar machen?«, fragte Sven.

   Ben erwiderte seine Frage mit einem Nicken. Er gab kurz darauf zu verstehen, dass nun alle durch den Unsichtbarkeitsbann geschützt waren. Sven machte sich daran Bens Schulter zu untersuchen.

   »Das sieht nicht gut aus.«

   »Du musst den Pfeil abbrechen und dann herausziehen«, sagte Ben mit schmerzverzerrter Stimme. »Danach kann ich die Wunde heilen.«

   Sven erschrak bei dem Gedanken daran, was er tun sollte. Nach kurzem Zögern legte er zuerst die Wunde frei. Hierzu nahm er seinen Dolch und schnitt damit das Hemd auf. Ben zuckte vor Schmerzen zusammen, als Sven dabei aus Versehen den Pfeil berührte.

   »Wie soll ich den Pfeil entfernen, wenn es schon bei der kleinsten Berührung so weh tut?«

   Ben gab jedoch keine Antwort. Sven wusste nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, ohne Ben weitere Schmerzen zuzufügen. Da sah er, wie Ben einen kleinen Stock in den Mund nahm und Sven zunickte.

   »Lisa, nimm das andere Ende des Pfeils und halte es ruhig.«

   Behutsam nahm Lisa das Ende des Pfeils in die Hände und hielt es fest, der weilen tat Sven das Gleiche mit dem vorderen Teil. Eine Hand legte er direkt an die Stelle, wo der Pfeil aus der Schulter ragte, die andere setzte er davor. Er versuchte, den Pfeil so ruhig als möglich zu halten, dann brach er mit einem Ruck die Spitze vom Pfeil ab. Ben verkrampfte sich dabei so vor Schmerzen, dass beide den Pfeil losließen. Als sich Ben wieder beruhigt hatte, nickte er erneut Sven zu. Jetzt musste Sven den Pfeil noch herausziehen. Er setzte sich hinter Ben und legte seine linke Hand an dessen linke Schulter. Dann ging alles ganz schnell. Mit der rechten Hand ergriff Sven das Ende des Pfeils und zog ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Ben schrie mit dem Stock im Mund so laut auf, dass alle erschraken, dann kippte er bewusstlos zur Seite. Sven versuchte die Blutung mit den Resten des Hemdes und einigen Lappen aus seinem Rucksack zu stillen. Es blutete so stark, dass der Verband sehr schnell mit Blut durchtränkt war.

   »Wenn die Blutung nicht bald aufhört, wird er es nicht schaffen.«

   Da kam Ben wieder zu sich, legte seine Hand auf die Wunde und begann diese zu heilen. Nach kurzer Zeit hörte die Blutung auf und die Wunde schloss sich. Allerdings war Ben so geschwächt, dass er sich erschöpft hinlegte.

   »Jetzt bist du dran, Garum.«

   »Sollten wir nicht warten, bis Ben wieder bei Kräften ist?«

   »OK, dann warten wir, aber lass mich die Wunde einmal ansehen.«

   Sven nahm seinen Dolch und schnitt die Hose so weit auf, dass er die Wunde freilegen konnte. Vorsichtig berührte er den Pfeil, Garum zuckte dabei zusammen.

   »Der Pfeil sitzt fest. Wahrscheinlich steckt er im Knochen«, meinte Garum mit schmerzverzerrter Stimme.

   »Da müssen wir wirklich warten, bis Ben sich erholt hat.«

   Lisa, die sich um Ben gekümmert hatte, wendete sich jetzt zu Garum.

   »Wie lange seid ihr schon hier in dem Gebüsch?«

   »Gleich nachdem ihr weg wart, wurde Ben an der Schulter getroffen. Wir haben uns hierher geschleppt und versteckt. Das war vor etwa zehn Minuten.«

   Lisa schaute zu Sven und dann wieder zu Garum.

   »Warum seid ihr zurückgekommen? Ihr wart doch in Sicherheit?«, wollte Garum wissen.

   »Wir wollten euch helfen und Ben hat nach mir gerufen.«

   »Wie konnte er dich rufen? Er war, bis ihr gekommen seid, bewusstlos.«

   Alle drei schauten sich schweigend an. Lisa setzte sich wieder zu Ben und sah nach ihm. Als sie die Wunde säuberte, öffnete er die Augen.

   »Hallo Ben.«

   Ben drehte sich auf den Rücken und sah Lisa an.

   »Hallo Lisa«, antwortete er mit belegter Stimme.

   Er wollte sich gerade aufrichten, als Lisa ihn davon abhielt.

   »Du brauchst noch Ruhe.«

   »Ich muss Garum helfen.«

   Lisa schaute zu Garum, der ihr zunickte.

   »Das hat noch Zeit.«

   Ben setzte sich mit einem Seufzer auf und schaute zu Garum und Sven. Plötzlich hörten sie Stimmen.

   »Das müssen die Wachen sein. Sie suchen immer noch nach uns«, sagte Garum.

   »Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie uns gefunden haben. Wir müssen uns beeilen. Zeig mir dein Bein«, sagte Ben.

   Garum zog sich näher zu Ben und legte sein Bein neben ihn. Ben schaute sich die Verletzung an. Als er den Pfeil berührte, zuckte Garum zusammen und stöhnte.

   »Der Pfeil sitzt fest«, sagte Ben. »Leg dich hin. Sven halte das Bein fest. Lisa sorge dafür, dass er liegen bleibt. Hier, nimm den Stock in den Mund. Beiße so fest du kannst darauf.«

   Lisa und Sven taten das, was Ben ihnen aufgetragen hatte. Als Sven das Bein festhielt, nahm Ben den Pfeil in die Hand. Er packte kräftiger zu und zog mit einem Ruck und all seiner Kraft an dem Pfeil. Garum schrie mit dem Stock im Mund auf, doch der Pfeil rührte sich nicht.

   »Er sitzt fester, als ich gedacht habe. Muss tief in den Knochen eingedrungen sein.«

   Garum stöhnte vor Schmerzen. Die Stimmen, die sie gehört hatten, kamen immer näher.

   »Wir müssen ihn beruhigen, sonst hören die Wachen uns noch.«

   Ben versetzte Garum mittels Magie in einen tiefen Schlaf.

   »Das tat ich nicht gerne, es ist nicht ungefährlich. Aber wir haben keine andere Wahl. Haltet ihn so fest ihr könnt«, er nahm den Pfeil in beide Hände und zog so kräftig daran, wie er konnte.

   Langsam gab der Pfeil nach und glitt aus der Wunde. Ben legte seine Hand auf die Wunde und schloss diese mit einem Heilzauber. Danach versuchte Ben den Tiefschlaf von Garum wieder aufzuheben, jedoch ohne Erfolg. Garum schlief weiter.

   »Stimmt etwas nicht?«, fragte Sven.

   »Ich bekomme ihn nicht aus dem Tiefschlaf.«

   »Ruhe dich erst aus und versuch es später noch einmal.«

   Ben setzte sich neben Garum, er fühlte sich schuldig. Während der Ausbildung wurde er vor diesem Zauber gewarnt. Es konnte durchaus passieren, dass die betreffende Person nicht mehr aufwachte. Aber was hätte er sonst tun können? Man hätte sie entdeckt. Die Stimmen hatten nun fast den Busch erreicht, in dem sich die Vier befanden.

   »Psst, ganz leise«, flüsterte Ben.

   Die Stimmen erreichten den Busch. Die Zweige wurden auseinandergebogen. Die Wachen sahen hinein, aber der Unsichtbarkeitsbann schien noch zu wirken, sie sahen die Vier nicht. Die Zweige gingen wieder zusammen, als die Wachen sie losließen. Die Stimmen entfernten sich wieder.

   »Puh, das hätten wir geschafft«, sagte Ben.

   Lisa und Sven nickten ihm zustimmend zu.

   Ben versuchte noch einmal, Garum aus dem Tiefschlaf zu holen. Diesmal schien es ihm zu gelingen, Garum bewegte sich und stöhnte dabei.

   »Garum, wach auf.«

   Aber er erwachte nicht.

   »Vielleicht braucht er noch etwas Zeit, versuch es nachher noch einmal.«

   Sie legten sich hin und versuchten etwas zu schlafen, fanden jedoch keine Ruhe, denn sie dachten ständig an Garum.