Endlich Wochenende


   Duza war ein kleines Mädchen im Alter von zehn Jahren, das in Sondrum lebte. Sie war gerade mit ihren Eltern beim Essen, als plötzlich jemand in ihrer Hütte erschien und sie am Arm packte. Kurz darauf war sie nicht mehr in ihrem Elternhaus, sie befand sich in der großen Hütte im Palast. Sie verstand nicht, was da gerade geschehen war, und blickte sich ängstlich um. Nach und nach füllte sich der Raum, in dem sie sich befand. Nach etwa zehn Minuten kamen keine weiteren Kinder mehr. So weit Duza sehen konnte, waren alle Kinder des Dorfes in der Hütte versammelt. Sie sahen sich an und versuchten zu begreifen, was mit ihnen geschehen war. Duza ging vor die Hütte und fand einen der Wachen.

   »Ich muss mal.«

   »Dort drüben«, sagte der Wachmann und zeigte zu einer kleinen Hütte.

   Duza ging zu der Hütte und betrat dort die erste Kabine. Plötzlich erschienen vor ihr wie aus dem Nichts drei Gestalten. Duza schrie kurz auf, hielt sich aber den Mund mit der Hand zu, als sie Ben erkannte.

   »Pssst«, sagte Ben und hielt seinen Zeigefinger an den Mund.

   »Was ist los?«, schrie einer der Wachmänner und ging auf die kleine Hütte zu.

   »Ich hab mich vor einer Maus erschreckt«, antwortete Duza.

   Der Wachmann zog wieder ab.

   »Das war knapp«, sagte Lisa.

   »Ben, was macht ihr hier?«, wollte Duza wissen.

   »Wir holen euch hier raus.«

   »Aber wie? Die ganze Hütte ist voll, alle Kinder aus dem Dorf sind hier.«

   »Das werdet ihr schon noch sehen. Geh jetzt zurück und sage ihnen, dass sie sich bereithalten sollen.«

   Duza ging zu den anderen und erzählte, was sie soeben erfahren hatte. Die Nachricht der baldigen Befreiung machte die Runde. In der Hütte wurde es immer lauter, die Kinder fingen an zu jubeln.

   »Haltet eure Klappe!«, schrie plötzlich einer der Wachen und schlug mit seiner Peitsche in die Luft, dass es knallte. »Wenn hier nicht bald Ruhe ist, dann werdet ihr nichts zu essen bekommen.«

   Die Kinder waren augenblicklich still, nur vereinzelt waren noch leise Stimmen zu hören.

   »Geht doch«, brummte der Wachmann und stellte sich wieder etwas abseits der Tür auf.

   

   »Wie sollen wir die ganzen Kinder hier raus bekommen?«, fragte Lisa.

   »Das weiß ich auch noch nicht.«

   Sie überlegten, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Ben konnte nicht alle Kinder auf einmal nach Sondrum transportieren, hierzu reichten seine Kräfte nicht aus. Einzeln wäre zu langwierig und in Gruppen würde es sicherlich bald auffallen, dass Kinder fehlten. Durch die Tür in der Mauer, die zum Wald des Todes führte, konnten sie ebenfalls nicht gehen. Sie war immer noch von außen mit einem Baumstamm versperrt.

   »Du könntest doch den Baumstamm wegnehmen, indem du dich dorthin transportierst und dann wieder zurück«, schlug Sven vor.

   »Das ginge schon, aber wie wollen wir alle unbemerkt durch die Tür bringen? Ich glaube nicht, dass wir wieder so viel Glück haben wie zuletzt.«

   Lisa wollte gerade etwas sagen, als Ben anfing sich zu schütteln.

   »Ben, was ist los?«

   »Nichts, ich habe mich wohl etwas verausgabt, als ich uns drei transportiert habe.«

   »Aber du hast damals das ganze Haus und uns beide noch viel weiter transportiert!«

   »Das ist richtig, aber hier musste ich erst herausfinden, ob es einen Schutzbann gibt. Es kostet sehr viel Kraft den Transport zu unterbrechen und dann fortzusetzen ohne aufzutauchen«, sagte Ben und setzte sich erschöpft hin.

   »Und was nun?«, meinte Lisa mutlos.

   »Wir warten hier, bis er sich erholt hat. Bis dahin müssen wir darauf hoffen, dass die Wachen nichts bemerken.«

   »Und was wird mit den Kindern in der Hütte?«

   »Du musst zu ihnen und sagen, dass sie sich ruhig verhalten sollen. Ich werde hier bei Ben bleiben.«

   Lisa schlich in die große Hütte. Als die Kinder sie bemerkten, ging ein Raunen durch die Menge. Lisa gab zu verstehen, dass alle ruhig bleiben sollten. Sie ging in die Mitte des Raumes und erklärte den Anwesenden, dass die Flucht sich verzögern würde. Die Nachricht wurde leise weitergegeben, bis alle informiert waren. Sie setzten sich auf den Boden und warteten.

   Es wurde Abend, doch Ben und Sven waren immer noch nicht erschienen. Lisa machte sich langsam Sorgen. Als das Abendessen gebracht wurde und die Wachen die Hütte wieder verlassen hatten, schlich sie in die kleine Hütte.

   »Schläft er?«

   Gerade in diesem Augenblick wachte Ben auf.

   »Wie lange hab ich denn geschlafen?«

   »Fast sechs Stunden«, sagte Sven.

   »Wir müssen uns beeilen, die Kinder werden langsam unruhig«, meinte Lisa.

   »Ich werde zuerst die Kleinsten und Schwächsten zurück nach Sondrum bringen«, sagte Ben und stand auf.

   »Du bist noch viel zu schwach«, Sven hielt ihn zurück. »Wir müssen uns etwas anderes ausdenken. Lass uns zu ihnen gehen, gemeinsam finden wir vielleicht schneller eine Lösung.«

   Im Schutz der Dunkelheit gingen sie in die große Hütte. Da kam ein Junge aus der Hütte und fragte die Wachen: »Kann ich mal aufs Klo?«

   Einer der Wachmänner ging zu ihm: »Da drüben« und zeigte in Richtung der kleinen Hütte.

   Lisa, Sven und Ben konnten sich gerade noch hinter einer nahen Hecke verstecken. Der Wachmann schien etwas bemerkt zu haben und ging auf die Hecke zu. Ben formte einen Unsichtbarkeitszauber. Der Wachmann stand vor dem Busch und stocherte mit seinem Speer darin herum. Die Spitze verfehlte Sven nur um Haaresbreite, da sprang ein Hase aus dem Busch und verschwand in der Dunkelheit. Der Wachmann schaute noch dem Hasen nach, dann ging er beruhigt zu seinem Kollegen zurück. In der Zwischenzeit war der Junge zu den anderen zurückgekehrt. Die Wachen registrierten dies, gingen zu der Eingangstür der großen Hütte, schlossen diese und stellten sich direkt davor.

   »Was machen wir jetzt?«, fragte Sven flüsternd.

   »Ich werde versuchen uns in die Hütte zu transportieren.«

   »Du bist noch zu schwach dafür.«

   »Wir müssen es versuchen«, sagte Ben und fing an den Zauber zu formen.

   »Warte!«, sagte Lisa. »Es gibt noch einen Eingang. Er ist auf der anderen Seite der Hütte. Dort sind ein paar Bretter lose, da können wir durch.«

   Ben unterbrach sein Vorhaben. Gemeinsam umrundeten sie die Hütte und fanden die losen Bretter. Lisa entfernte drei davon, damit der Eingang groß genug war, um hindurchzukriechen. Lisa ging als Erste durch das entstandene Loch in der Wand. Als die Kinder sie sahen, gab es erneut Unruhen. Sie beruhigte die Kinder, damit die Wachen nichts davon bemerkten. Als Nächster kam Sven und danach Ben. Sie schlossen das Loch wieder und setzten sich. Sven erklärte den Kindern, dass Ben ein Zauberer war und sie herausholen wollte. Jedoch konnten nicht alle gleichzeitig gehen, da Ben dazu zu schwach war. Sven sagte den Kindern, sie sollten sich in Altersgruppen aufteilen. Es dauerte nicht lange, da hatten sich alle ihrem Alter entsprechend zusammengestellt. Es waren zu viele Gruppen, woraufhin Ben einige zusammenlegte, um die Anzahl zu verringern. Danach waren es noch vier Gruppen unterschiedlichster Stärke. Ben ging zuerst zu den Jüngsten. Die Gruppe bestand aus neun Sechs- bis Achtjährigen. Ben erklärte ihnen, was er vorhatte, und bat sie sich an den Händen zu nehmen. Kurz darauf verschwand die Gruppe mit Ben. Nach etwa zwanzig Minuten kam Ben allein zurück. Sven hatte in der Zwischenzeit den anderen erklärt, wie der Transport vor sich gehen würde. Ben fühlte sich jetzt bereits müde, aber er wollte die Kinder nicht im Stich lassen und ging zur nächsten Gruppe. Sie bestand aus fünfzehn Kindern im Alter von neun bis elf Jahren. Die Kinder fassten sich sogleich an den Händen, als Ben zu ihnen kam. Er stellte sich in die Mitte und begann mit dem Transportzauber. Diesmal dauerte es etwas länger, bis die Gruppe verschwand. Sven bemerkte dies und ging besorgt zu Lisa.

   »Ich glaube, es ist zu anstrengend für ihn.«

   »Wir sollten vielleicht mit der nächsten Gruppe etwas warten, damit er sich erholen kann.«

   Es waren schon fast vierzig Minuten vergangen und Ben war immer noch nicht zurückgekehrt. Die Kinder wurden langsam unruhig. Sie hatten Angst, dass sie nicht mehr rechtzeitig vor Tagesanbruch fliehen konnten. Plötzlich erschien Ben. Allerdings brach er zusammen, gerade als er auf die nächste Gruppe zugehen wollte. Sven und Lisa liefen zu ihm. Einige der anderen Kinder kamen ebenfalls und wollten helfen. Ben war erschöpft, die Anstrengungen waren zu groß. Es dauerte über zwei Stunden, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Er wollte aufstehen und weiter machen, aber Lisa und Sven hielten ihn zurück.

   »Du musst dich ausruhen«, sagte Sven im strengen Ton und drückte ihn wieder herunter.

   »Wir müssen uns beeilen, es wird bald hell.«

   Sie stritten sich eine Weile, dann hatte Ben aber ein Einsehen und blieb liegen. Die Kinder wurden immer unruhiger. Lisa ging zu den Wartenden und versuchte sie zu beruhigen. Nach einer weiteren Stunde erhob sich Ben und ging zur dritten Gruppe. Sie bestand aus achtzehn Kindern im Alter von zwölf Jahren. Ben sah sich die Gruppe an, alle hatten sich bereits an den Händen gefasst. Er ging in die Mitte und sah noch einmal in die Runde.

   »Ben, das sind zu viele«, meinte Sven.

   »Ich muss es versuchen. Wenn wir sie aufteilen, schaffen wir es nicht bis zum Morgen. Die Wachen würden es bestimmt merken, dass Kinder fehlen, und was dann los sein würde, kannst du dir ja denken.«

   »Es wird dich umbringen, wenn du so weiter machst. Bleib wenigstens etwas länger in Sondrum, wir kommen schon klar hier.«

   Den letzten Satz hatte Ben nicht mehr gehört. Er hatte sich bereits auf den Transportzauber konzentriert. Langsam löste sich die Gruppe auf. Sven sah noch, wie Ben in die Knie sank, dann war die Gruppe verschwunden.

   »Hast du das gesehen?«, fragte Sven Lisa erschrocken.

   »Ja. Ob er es noch bis Sondrum schafft?«

   Die übrigen Kinder, es waren elf zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, schauten Sven und Lisa erwartungsvoll an.

   »Ich glaube nicht, dass Ben rechtzeitig zurück sein wird. Wir müssen es alleine versuchen. Wir haben nur eine Gelegenheit. So lange es noch dunkel ist, sollten wir versuchen, von hier weg zu kommen«, schlug Sven vor.

   »Wie sollen wir das schaffen? Die Wachen werden uns nicht einfach gehen lassen«, kam es aus der Gruppe.

   »Das weiß ich auch noch nicht, aber uns wird schon noch etwas einfallen.«

   Sven nahm Lisa am Arm und führte sie in eine Ecke des Raumes, um sich ungehört von den anderen unterhalten zu können.

   »Wie sollen wir die alle hier ungesehen heraus bekommen? Du kennst dich doch hier aus, gibt es vielleicht einen Geheimgang?«

   Lisa zuckte ratlos mit den Schultern.

   »Keine Ahnung, ich habe nie einen gesehen. Aber vielleicht können wir die Tür neben der Hütte benutzen.«

   »Das geht nicht. Erstens ist sie verschlossen und zweitens würden die Kinder nicht lebendig durchgehen können.«

   »Du könntest doch die Tür mit deinem Dolch wieder öffnen.«

   »Mit dem Dolch kann man die Türen nur verschließen. Ich wüsste nicht, wie ich sie wieder öffnen könnte.«

   Lisa und Sven unterhielten sich noch eine Weile, bevor sie sich wieder den anderen Kindern zuwandten. Lisa ging zu der Gruppe, Sven zu dem Loch, durch das sie hereingekommen waren. Lisa erklärte den Kindern, was sie vorhatten.

   

   Sven ging durch das Loch in der Wand und machte sich auf den Weg zu der Tür in der Nähe der Hütte. Da sich die Wachen auf der anderen Seite der Hütte befanden, konnte er die Stelle ungesehen erreichen. Sven konnte die Tür zwar nicht sehen, aber er wusste noch genau, wo sie sich befand. Er nahm den Dolch aus der Scheide und richtete die Spitze auf die Stelle, wo sich die Tür befinden musste. Es geschah nichts.

   »Ob das auch wirklich die richtige Stelle ist?«

   Den Dolch in der ausgestreckten Hand schnitt er in alle Himmelsrichtungen durch die Luft, aber es geschah nichts.

   »Benutze den Bogen.«

   Sven fuhr erschrocken herum, als er die Stimme hörte, konnte jedoch niemanden sehen.

   »Benutze den Bogen«, wiederholte die Stimme.

   Sven nahm den Bogen von der Schulter. Er fragte sich, was er damit machen sollte. Da er es nicht wusste, tat er das Gleiche, was er auch mit dem Dolch zuvor gemacht hatte. Wieder geschah nichts. Er nahm einen der Pfeile, setzte ihn an und schoss in die Richtung, in der er die Tür vermutete. Der Pfeil surrte vom Bogen in Richtung Hütte. Mit einem »Plopp« bohrte sich die Spitze des Pfeils in die kleine Hütte, sonst geschah nichts.

   Sven erschrak: »Hoffentlich haben die Wachen das nicht gehört.«

   »Benutze den Dolch und den Bogen«, erklang erneut die Stimme.

   Sven holte den Dolch aus der Scheide und betrachte abwechselnd beides.

   »Wie soll das funktionieren?«

   Er setzte den Dolch an die Sehne des Bogens und spannte diese. Der Dolch war zu kurz, um den Bogen richtig spannen zu können. Es waren nur wenige Zentimeter, die aber reichten nicht, um dem Dolch genügend Schwung zu geben. Da hörte Sven plötzlich ein Geräusch, das von der großen Hütte her kam. Als er in die Richtung blickte, sah er, wie sich ein Kind nach dem anderen aus dem Loch zwängten. Sven war verzweifelt, er wusste nicht, was er tun sollte. Ganz zufällig berührten sich der Dolch und der Bogen. Als die Dolchspitze eins der Symbole am Bogen berührte, entstand ein Funke. Zuerst erschrak Sven, dann versuchte er es zu wiederholen. Wieder entstand ein Funke. Sven lief zu der Stelle, wo sich die Tür befinden musste, und fuhr mit der Dolchklinge über die Innenseite des Bogens. Die entstehenden Funken sammelten sich vor ihm und formten eine Tür, die er öffnete. Die Kinder hatten Sven bereits gesehen und liefen zu ihm. Gerade als die Kinder durch die Tür gehen wollten, hielt er sie davon ab.

   »Wartet, zuerst nur einer. Wir wissen nicht, ob es eventuell gefährlich für euch ist.«

   Einer der Älteren trat vor und stellte sich vor Sven.

   »Ich werde es als Erster versuchen.«

   »OK«, sagte Sven und gab ihm den Weg frei. »Bleib aber dahinter stehen und empfange die anderen.«

   Der Junge nickte, holte einmal tief Luft und ging durch die Tür. Sven sah, wie der Junge auf der anderen Seite stehen blieb und winkte. Es funktionierte, der Junge blieb am Leben! Nun gingen einer nach dem anderen durch die Tür. Nachdem Lisa hindurchgegangen war, ging auch Sven. Als er den Tunnel betrat, wurde es dunkel. Einige der Kinder schrien vor Schreck kurz auf.

   »Seid ruhig. Fasst euch an den Händen, ich werde euch führen.«

   Sie fassten sich an den Händen und warteten, dass es losging. Sven holte sich den Lageplan der Tunnel in sein Gedächtnis zurück. Als er den richtigen Weg gefunden hatte, ging er langsam los. Es dauerte nicht lange, bis die Gruppe unruhig wurde. Sven und Lisa versuchten, sie wieder zu beruhigen. Die Gruppe lief bereits seit zwanzig Minuten, als Sven plötzlich stehen blieb.

   »Was ist? Sind wir schon da?«, kam es aus der Gruppe.

   »Ja«, sagte Sven. »Hoffentlich geht die Tür auf.«

   Er nahm seinen Dolch und den Bogen und tat das Gleiche, was er im Palastgarten getan hatte. Es dauerte etwas, bis die Funken die Tür bedeckten. Durch das kleine Fenster in der Tür fiel plötzlich Licht. Sven ergriff die Klinke und öffnete die Tür.

   »Alle raus hier, beeilt euch!«, sagte Sven und winkte die Kinder hindurch.

   Als alle den Tunnel verlassen hatten, ging auch Sven durch die Tür. Sogleich schloss sich diese und verschwand. Sie befanden sich in der Geisterhütte in Sondrum.