Svens dreizehnter Geburtstag stand bevor. Da er auf einen Sonntag fiel, konnte er den Samstag für die Vorbereitungen nutzen. Zuerst wollte er einige Mitschüler einladen, hatte dies dann aber doch sein lassen.
»Wahrscheinlich wären die sowieso nicht gekommen.«
Also hatte er nur Lisa eingeladen. Was er vorhatte, wollte er ihr nicht sagen. Es sollte etwas Besonderes sein. Was genau wusste er auch nicht so recht. Am Samstagabend war Sven sehr unruhig. Er wusste immer noch nicht, was er an seinem Geburtstag machen sollte. Mit diesem Ungewissen ging er schlafen. Sven träumte wieder, allerdings ging es nicht um Ben. Er träumte von Lisa, wie sie ohne ihn durch eine der Türen ging. Als die Tür zuschlug, erwachte Sven mit einem Schrei: »Lisa! Warte!«
Sven nahm die Hand vor den Mund, doch sein Bruder hatte es nicht gehört.
»Das war wohl nur ein Traum«, dachte Sven und legte sich wieder hin.
Kurz nachdem er eingeschlafen war, fing er wieder an zu träumen. Diesmal sah er ein Dorf, das er noch nie zuvor gesehen hatte. In seinem Traum ging er in das Dorf. Seltsamerweise befanden sich dort keine Menschen, es war verlassen. An den Hütten waren die Fensterläden und Türen zum Teil aus den Angeln gefallen und hingen schief. Einige Fenster waren zerbrochen, die Dächer undicht, es schien schon lange verlassen zu sein. Da kam er an einem Friedhof vorbei. Aus irgendeinem Grund ging er darauf zu. Am Friedhof angekommen, ging er zielstrebig zu einem Grab, auf dessen Grabstein ein Name stand. Als Sven ihn las, erschrak er. War dies Bens Grab? Auf dem Grabstein stand »Benaru Tazea«, darunter war ein Symbol, das Sven noch nicht kannte. Er prägte sich das Symbol und den Namen ein, vielleicht konnte es noch von Nutzen sein. Danach ging er wieder zurück in das Dorf und sah sich um. Ihm fiel eine Hütte auf, die etwas anders aussah. Sie war nicht so verfallen wie die anderen Hütten. Auf diese ging er zu und klopfte an die Tür.
Eine Stimme im Inneren sagte: »Herein.«
Sven öffnete die Tür und ging hinein. Sie ähnelte im Aufbau derer von Ben. Am Tisch im Hauptraum saß ein Mann und schaute auf etwas, das auf dem Tisch lag. Sven ging zu dem Mann und wollte ihn gerade etwas fragen, als dieser den Kopf hob und Sven anblickte. Sven traute seinen Augen nicht.
»Sirius? Bist du das?«
Der Mann sah ihn an, sagte aber nichts. Sven setzte sich auf den Stuhl vor ihm und schaute sich den Gegenstand auf dem Tisch an. Es war eine Karte, auf der sich mehrere Symbole befanden. Die Karte ähnelte der, die er beim König gesehen hatte. Allerdings gab es wesentlich mehr Symbole darauf. Sven sah genauer hin und erkannte das Symbol, das er auf dem Grabstein gesehen hatte. Es lag in unmittelbarer Nähe des Symbols der Geheimtür, durch die Sven als Erstes gegangen war. Sven versuchte sich die Karte einzuprägen. Dabei versuchte er sich nur die ihm unbekannten Symbole zu merken. Gerade als Sven sich das letzte Symbol ansah, riss der Mann wütend die Karte vom Tisch und warf sie ins Feuer.
»Nein!«, rief Sven und versuchte die Karte zu retten, was ihm aber nicht gelang.
Die Karte verbrannte vor seinen Augen. Sven drehte sich zu dem Mann um.
»Bist du ver…?«, fing Sven verärgert an und verstummte.
Der Stuhl, auf dem der Mann saß, war leer. Sven ging zu dem Stuhl und schob ihn zur Seite, dabei zerfiel der Stuhl zu Staub. Der Tisch hatte eine so hohe Staubschicht, dass dort seit Jahren nichts mehr gelegen haben konnte. Erstaunt über die Ereignisse ging Sven zur Eingangstür der Hütte, schaute sich noch einmal um, um sicher zugehen, dass der Mann wirklich nicht mehr da war, und ging hinaus. Das Dorf sah in der Dämmerung noch verlassener und trostloser aus als am Tag. Sven ging die Hauptstraße entlang und sah sich weiter um. Er konnte sich nicht erklären, was dies alles zu bedeuten hatte. Plötzlich hörte er eine Stimme, die ihn rief.
»Sven!«
Sven drehte sich im Kreis, um die Richtung, aus der die Stimme kam, zu bestimmen.
»Sven!«
Wieder das Rufen seines Namens. Jedoch konnte er niemanden sehen.
»Sven! Wach auf.«
Da begriff er, was los war. Der Traum verblasste und Sven öffnete die Augen.
»Willst du deinen ganzen Geburtstag verschlafen?«, fragte ihn sein Bruder aufgeregt.
Sven rieb sich die Augen und stand auf. Hastig versuchte er noch die Symbole, die er im Traum auf der Karte gesehen hatte, auf seine zu übertragen, bevor er sich für seinen großen Tag fertig machte.
»Was machst du da?«
Rolf beugte sich neugierig über Svens Schreibtisch.
»Nichts. Hau ab«, sagte Sven und stieß ihn weg.
Rolf lief zu seiner Mutter. Sven hatte sich gerade angezogen, als seine Mutter ins Zimmer kam.
»Musst du deinen Bruder immer ärgern?«
»Er hat damit angefangen.«
Es ging noch eine Weile hin und her. Schließlich meinte seine Mutter nur, dass er heute Geburtstag hätte und sie deshalb nachsichtig wäre. Sven nahm die Karte, eine Scheibe Brot und ging zu Lisas Haus, wo diese bereits auf ihn wartete. Als Sven bei ihr war, wollte er gerade anfangen ihr von seinem Traum zu berichten, als Lisa ihm ins Wort fiel.
»Wo warst du?«
»Ich hab verschlafen, aber ich hatte einen seltsamen Traum«, sagte Sven und erzählte von diesem.
Lisa hörte aufmerksam zu.
»Kannst du dich noch an alle Symbole und deren Lage auf der Karte erinnern?«
»Ja, einen Teil konnte ich heute Morgen noch auf unsere Karte übertragen, bevor mein Bruder mich geärgert hat.«
»Dann lass uns zu mir gehen, da kannst du den Rest noch übertragen.«
Sie gingen in Lisas Zimmer, wo sich Sven daran machte, die Symbole auf die Karte zu übertragen. Es dauerte nicht lange, bis er fertig war. Gemeinsam schauten sie sich die Karte an. Sven markierte das Symbol, das er auf dem Grabstein gefunden hatte.
»Das ist im Nachbarhaus«, stellte Lisa fest.
»Ja. Dann müssen wir dort in den Keller und die Geheimtür suchen.«
»Das wird nicht einfach. Der Keller ist bestimmt abgeschlossen.«
»Das werden wir ja sehen, wenn wir dort sind«, sagte Sven und faltete die Karte zusammen. »Kommst du mit?«
»Wo willst du hin?«
»In den Nachbarkeller.«
»Willst du nicht noch etwas mitnehmen?«
»Nein ... Doch«, sagte Sven und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Den Dolch.«
Lisa nickte nur zustimmend, als sie bereits einige Sachen, die sie vielleicht benötigen könnten, in ihren Rucksack verstaute. Beide gingen daraufhin zu Sven, holten den Dolch und noch ein paar andere Dinge. Anschließend machten sie sich auf den Weg zum Nachbarkeller. An der Kellertür angelangt versuchten sie diese zu öffnen, sie war jedoch verschlossen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lisa.
»Warten. Vielleicht kommt jemand und geht in den Keller.«
Sie warteten fast eine Stunde, aber es kam niemand. Gerade als sie es aufgeben wollten, ging jemand auf die Kellertür zu und öffnete diese.
»Jetzt können wir rein, komm«, sagte Sven und schlich mit Lisa in den Keller.
Dort versteckten sie sich in einem der Seitengänge, bis die Person, die den Keller geöffnet hatte, diesen wieder verließ. Als das Licht ausging, schaltete Sven die Taschenlampe ein, die er mitgenommen hatte.
»Was meinst du, in welche Richtung müssen wir gehen?«, fragte Lisa.
Sven schaute auf die Karte und sagte dann: »Dort entlang, wenn mich nicht alles täuscht.«
Sie gingen in die besagte Richtung, dabei schauten sie sich die Wände genau an. Nach etwa dreißig Metern fanden sie eine Unregelmäßigkeit in der rechten Mauer. Die Steine schienen nicht ganz zu dem Rest zu passen, sie waren wesentlich jünger als die anderen. Das konnten beide an der Verwitterung der Steine sehen. Sie untersuchten die Wand genauer. Lisa nahm dazu ebenfalls ihre Taschenlampe aus ihrem Rucksack. Es war ein Quadrat von zwei mal zwei Meter, groß genug, um eine Tür sein zu können. Zuerst fanden sie nichts, was auf einen Mechanismus hinwies. Nach mehreren Minuten stieß Lisa auf einen Hinweis. Es war ein Stein direkt neben den neuen, in etwa einem Meter Höhe. Er war anders behauen als alle anderen, in seiner Mitte befand sich ein Kreis. Als sie mit ihren Taschenlampen darauf leuchteten, sahen sie, dass der Kreis etwas enthielt. Es waren kleine Zeichen, die sie schon einmal gesehen hatten. Diese Zeichen bildeten zusammen das Symbol, das Sven auf dem Grabstein gefunden hatte. Sven versuchte den Stein herauszuziehen, was ihm aber nicht gelang. Auch hinein drücken ließ sich der Stein nicht. Enttäuscht suchten beide weiter. Sven nahm sich jetzt die gegenüberliegende Wand vor. Er suchte zuerst auf gleicher Höhe, wie das Symbol war, das sie bereits gefunden hatten. Nach einiger Zeit half ihm Lisa dabei, aber auch sie konnte nichts finden. Irgendwann gaben sie es auf und suchten auf der Seite mit dem Symbol weiter. Außer diesem fanden sie jedoch nichts. Sie wandten sich wieder dem gefundenen Symbol zu. Sie betrachteten es und die Karte. Nach einiger Zeit fragte Lisa: »Was ist das da?«, und zeigte mit dem Finger neben das Symbol auf der Karte.
»Das ist nichts«, sagte Sven. »Da hab ich mich verzeichnet.«
Beide schauten sich das Symbol noch einmal genau an, konnten aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sven nahm seinen Dolch und kratzte auf dem Symbol herum, dabei löste sich plötzlich etwas ab. Das Symbol fiel vom Stein und zerbrach auf dem Boden, was beide erschreckte. Da, wo sich vor kurzem noch das Symbol befand, klaffte jetzt ein Loch. Sven leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein.
»Kannst du etwas erkennen?«, fragte Lisa.
»Nein. Ja. Da scheint etwas zu sein«, sagte Sven aufgeregt und versuchte in das Loch hinein zufassen.
Seine Hand war zu groß und mit den Fingern konnte er das Gesehene nicht erreichen. Lisa versuchte es ebenfalls, konnte jedoch den Mechanismus nicht auslösen. Beide schauten sich ratlos an, da kam Sven eine Idee. Er nahm einen Bleistift, den er im Rucksack hatte, und versuchte damit den Mechanismus im Inneren des Steins auszulösen. Er führte den Bleistift in die Öffnung. Er konnte die Platte im Inneren erreichen und drückte diese langsam nach innen, bis es nicht mehr weiter ging, doch nichts geschah. Als Sven den Bleistift wieder herauszog, hörten sie plötzlich ein leises Klicken. Irgendetwas wurde dadurch in Bewegung gesetzt. Es war zuerst ein leises Kratzen, das immer lauter wurde. Dann hörten sie einen dumpfen Schlag. Die zwei mal zwei Meter große Fläche schob sich von ihnen weg nach innen, dann glitt sie mit einem Knirschen zur Seite. Vor ihnen war, wie schon zuvor, ein langer dunkler Tunnel.
Beide überlegten einen Augenblick, dann traten sie hinein. Nachdem sie den Tunnel betreten hatten, schloss sich der Durchgang wieder. Langsam gingen sie weiter in den Tunnel hinein. Ähnlich den anderen gab es auch hier Seitengänge. Lisa und Sven blieben auf dem Haupttunnel, so wie sie es vorher auch getan hatten. Nach dem zweiten Seitengang hörten sie plötzlich wieder das bereits vertraute Geräusch.
Bummm Krrrr, Bummm Krrrr ...
Sie fingen an schneller zu laufen, um das Ende des Tunnels zu erreichen. Aber diesmal war kein Ende in Sicht, so weit ihre Taschenlampen auch reichten. Sie liefen, so schnell sie konnten, aber je schneller sie liefen, desto näher kam das Geräusch. Es musste aus der Richtung kommen, in die sie liefen. Plötzlich blieben beide stehen.
»Was nun?«, fragte Lisa.
Sven nahm automatisch seinen Dolch aus der Scheide am Gürtel und hob die Eisenstange zur Abwehr. Als Lisa dies sah, bekam sie noch mehr Angst. Langsam gingen sie weiter. Das Geräusch war bereits so nahe, dass sie eigentlich den Verursacher hätten sehen müssen. Jedoch wollte sich dieser nicht zu erkennen geben. Lisa und Sven fingen wieder an zu laufen, sie hatten Angst. Da sahen sie in etwa zwanzig Meter Entfernung ein schwaches Licht.
»Das muss die Tür sein!«, rief Sven voller Aufregung.
»Da! Sven, pass auf!«, Lisa zeigte in einen Seitengang.
Dort war etwas Großes, das fast den gesamten Seitentunnel ausfüllte. Es kam direkt auf sie zu. Aber es war immer noch zu weit weg von den Beiden, als dass sie es hätten genauer erkennen können.
»Lauf!«, schrie Sven und zog Lisa am Arm.
Beide liefen jetzt so schnell sie konnten auf das Licht zu, aber die Gestalt kam immer näher. Es schien so, als ob sich Lisa und Sven auf der Stelle bewegten.
»Lauf schneller!«, schrie Sven, doch Lisa zog an der Hand, um Sven zu zeigen, dass sie nicht schneller konnte.
Bummm Krrrr, Bummm Krrrr ...
Das Geräusch kam näher und in immer kürzeren Abständen. Sven blickte sich um und blieb abrupt stehen. Lisa hätte Sven beinahe umgerannt, als dieser so plötzlich anhielt. Sven fing an, sich vor Lachen zu krümmen. Lisa schaute zuerst Sven verständnislos an, dann sah sie in die Richtung, in die Sven zeigte. Da musste sie ebenfalls lachen. Das, was da auf die beiden zu rannte, war einfach zu komisch. Es war ein alter, gebückt gehender Mann, der ein Bein nach sich zog. Als der Mann sah, dass die Beiden stehen blieben, nahm er seinen Stock und wedelte damit in der Luft. Was er sagte, konnten sie nicht verstehen. Als der Mann Lisa und Sven erreicht hatte, hatten diese sich bereits wieder beruhigt. Der alte Mann zeigte mit seinem Stock in die Richtung des Lichtes und sagte: »Geht da nicht durch. Es ist zu gefährlich.«
»Wir sind schon öfter durchgegangen«, widersprach Lisa, Sven nickte zustimmend.
»Dort geht es zu den Sümpfen. Dort ist noch niemand lebend herausgekommen. Nehmt diesen Weg«, sagte der alte Mann und zeigte mit dem Stock in einen der Seitentunnel. »Warum seid ihr vor mir weggelaufen?«
»Wir dachten … Wir hatten … Wir wollten ...«, stammelte Sven.
»Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich wollte euch immer nur warnen. Aber ihr wart zu schnell für mich.«
Sie unterhielten sich einige Zeit. Es dauerte nicht lange, da vertrauten Lisa und Sven dem alten Mann und folgten ihm in eine der Seitentunnel. Sie bogen in mehrere Seitentunnel ab. Schon nach kurzer Zeit hatten Lisa und Sven die Orientierung verloren, da sie mehrere male die Richtung wechselten.
»Wo führst du uns hin?«, fragte Sven.
»Zu einem Ausgang, der nicht so gefährlich ist«, sagte der alte Mann.
Lisa hatte vor etwa zehn Minuten begonnen Markierungen an den Wänden anzubringen. Sie hatte ein ungutes Gefühl und ließ sich etwas zurückfallen. Als Sven es bemerkte, ließ er sich ebenfalls etwas zurückfallen und blieb neben Lisa stehen.
»Was ist?«
»Ich traue ihm nicht. Ich glaube, er will uns gar nicht helfen.«
»Wieso meinst du das?«
»Wir laufen die ganze Zeit im Kreis.«
»Woher willst du das wissen?«
»Hier«, sagte Lisa und zeigte mit der Taschenlampe auf eine Markierung an der Wand. »Die hab ich vor zehn Minuten gemacht.«
Sven starrte zuerst die Markierung an, dann lief er zu dem alten Mann.
»Ist es noch weit bis zu dem Ausgang?«
Der alte Mann drehte sich um und sagte: »Nein. Wir sind gleich da.«
Er ging weiter. Lisa und Sven folgten ihm in einem größeren Abstand als zuvor. Nach etwa fünfzehn Minuten sahen sie etwas Helleres vor sich: Es war ein beleuchteter Raum. Als sie diesen erreicht hatten, gingen sie hinein.
In dem Raum stand ein Tisch mit sechs Stühlen, ein Bett und an einer Wand befand sich eine Feuerstelle. Der Raum war taghell beleuchtet, allerdings konnten Lisa und Sven nicht sehen, wo das Licht herkam.
»Setzt euch, ihr habt doch bestimmt Hunger?«
Lisa und Sven sahen sich unsicher um.
»Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir gehen nach dem Essen zu der Tür, wie ich es euch versprochen habe.«
Lisa und Sven setzten sich, der alte Mann nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn mitten auf den Tisch. Danach ging er zu den Regalen an der Wand und holte drei Schüssel und drei Löffel, die er ebenfalls auf den Tisch ablegte. Mit einem großen Löffel nahm er etwas von dem Inhalt aus dem Topf und schüttete es in die kleine Schüssel. Diese reichte er dann Lisa und Sven. Beide schauten sich den Brei an, der eigenartig roch.
»Esst. Das ist gesund«, behauptete der alte Mann und fing an zu essen.
Lisa und Sven versuchten ein klein wenig davon. Es schmeckte grauenvoll, wie, wenn man alte Putzlappen, die schon Schimmel angesetzt hatten, mit Morast auskocht. Beide mussten würgen und spuckten das Essen wieder aus.
»Das ist ja grauenvoll!«
»Tut mir leid, wenn es euch nicht schmeckt. Aber hier in den Tunneln gibt es nicht allzu viel Essbares. Manchmal finde ich nützliche Gegenstände oder auch etwas zu essen, was besser schmeckt. Aber diese Woche hatte ich kein Glück.«
»Warum leben sie eigentlich hier? Sie könnten doch durch eine der Türen gehen«, fragte Lisa.
Der alte Mann überlegte eine Weile.
»Das wäre schön. Aber ich kann weder durch die Türen noch durch die Geheimtüren, durch die ihr gekommen seid.«
»Warum nicht?«, fragte Sven.
»Wisst ihr, als ich hierher kam, war ich nicht älter als ihr. Es ist lange her, aber ich lebte in Samen, das ist hinter den Türen.«
Sven schaute Lisa überrascht an.
»Ich habe damals mit meinem Freund Benaru Fangen gespielt, als plötzlich Benaru rief, ich solle stehen bleiben. Ich dachte, er wollte mich nur schneller einholen, dann war ich plötzlich durch eine dieser Türen. Ich hatte sie nicht gesehen. Erst als sie zufiel, bemerkte ich, dass sie da war. Ich habe immer wieder versucht sie zu öffnen, aber es ist mir nie gelungen. Allerdings konnte ich durch die kleinen Fenster in den Türen sehen. Dann fühlte ich mich nicht mehr so alleine. Ich sah aber auch, dass ich, im Gegensatz zu Benaru, immer älter wurde. Hier scheint die Zeit etwas anders zu laufen als hinter den Türen. Die Geheimtüren, durch die ihr in den Gang gelangtet, konnte ich ebenfalls nicht öffnen. Auf dieser Seite gibt es keine Möglichkeit dazu. Ich hatte die Hoffnung, je wieder nach Hause zu kommen, schon fast aufgegeben, da sah ich eines Tages dich, Sven, durch eine der Türen gehen. Da bekam ich wieder Hoffnung. Leider warst du zu schnell für mich, und ich musste mit ansehen, wie du verschwandest.«
»Bist du etwa Hantu?«, fragte Sven.
»Ja. Woher kennst du meinen Namen?«
»Den hat mir Ben, ich meine Benaru, gesagt.«
»Du kennst Benaru?«
Lisa und Sven erzählten ihm die Abenteuer, die sie mit Ben erlebt hatten.
»Benaru denkt also, ich sei tot. Der wird vielleicht Augen machen, wenn ich plötzlich vor ihm stehe.«
»Meinst du, du kannst mit uns zusammen durch die Tür?«
»Ja, das denke ich schon.«
»Warum hast du uns vorhin im Kreis herumgeführt?«, fragte Lisa und sah Hantu streng an.
»Ich hatte aus Versehen die falsche Abzweigung genommen. Verzeiht, aber es wird immer schwieriger, mir die Wege zu merken«, sagte Hantu verlegen.
Sie plauderten noch einige Zeit, dann stand Hantu auf.
»Kommt, gehen wir zu Ben! So nennt ihr ihn doch?«
Lisa und Sven nickten. Gemeinsam verließen sie den hellen Raum und traten in den dunklen Tunnel. Lisa und Sven schalteten ihre Taschenlampen ein, um besser sehen zu können.
»Macht das Licht aus!«
»Warum?«, wollte Sven wissen.
»Mit dem Licht sehen wir die Türen nicht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Licht macht die Türen unsichtbar, zumindest für Nichtmagier«, sagte Hantu und ging weiter.
Lisa und Sven schalteten ihre Taschenlampen wieder aus und liefen hinter Hantu her. Seltsamerweise konnten sie Hantu auch im Dunkeln sehen. An seiner Kleidung waren leuchtende Punkte. Es dauerte nicht lange, da hatten sie eine der Türen erreicht.
»So. Da wären wir«, sagte Hantu.
»Wo führt diese Tür hin?«, fragte Lisa.
»In das Dorf Sondrum«, sagte Hantu und fügte leise hinzu: »Benaru, ich komme.«
Den letzten Satz hatten Lisa und Sven nicht gehört. Lisa ging zur Tür, öffnete sie und trat hinaus. In diesem Augenblick stieß Hantu Sven beiseite und stürmte hinter Lisa her. Als er durch die Tür hindurch war, schloss sich diese. Sven konnte nicht so schnell reagieren, er blieb allein in den Tunneln.
»Lisa! Nein!«, rief Sven.
Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie blieb verschlossen. Durch das kleine Fenster sah er noch, wie Hantu Lisa am Arm packte und sie festhielt, dann war alles verschwunden.
»Sven! Nein!«
Lisa wollte gerade zu der Tür zurück, da hielt sie Hantu fest. Erschrocken blickte sie ihn an.
»Lass mich los, ich muss zu Sven!«
»Du kannst ihm nicht helfen. Es ist zu spät.«
In diesem Moment verschwand die Tür vor ihren Augen. Lisa war verzweifelt. Sie schaute sich um und stellte fest, dass sie nicht im Dorf Sondrum, sondern im Palastgarten waren.
»Darauf habe ich so lange warten müssen. Jetzt bin ich endlich wieder frei.«
Lisa schaute Hantu entgeistert an.
»Ja, du hast recht. Ich arbeite für den König. Ich bin auch nicht Hantu, mein Name ist Kalta.«
Die Wachen hatten die Beiden bereits entdeckt und kamen näher. Als sie sie erreicht hatten, sagte einer der Wachen: »Hallo Kalta, lange nicht gesehen.«
Kalta übergab Lisa den Wachen, dabei zerrte er so an Lisas Arm, dass sie beinahe hingefallen wäre.
»Bringt sie in den Kerker und sagt dem König, dass ich ihn sprechen muss.«